Unter dem Namen «Scudetto» veranstaltet Ben Redelings seit mehr als fünfzehn Jahren fußballkulturelle Abende. Außerdem ist er regelmäßiger Fußball-Kolumnist (u.a. für n-tv-online, «11 Freunde» und «Reviersport») sowie vielfacher (und sehr erfolgreicher!) Fußball- und Kinderbuchautor. Wir hatten das Vergnügen mit dem «ungekrönten Meister im Aufspüren kurioser Fußballgeschichten» zu sprechen.
Ralf Lilienthal | Herr Redelings, im Juni beginnt ja die Fußball-EM. Angesichts der schrecklichen Ereignisse im vergangenen November am Tag des Länderspiels Frankreich-Deutschland im Stade de France erwartet sicherlich niemand eine ungetrübte «Sommermärchen»-Atmosphäre. Dennoch die Frage: Was bedeuten die großen internationalen Fußballturniere für Sie?
Ben Redelings | Das war tatsächlich ein großer Schock: Ein Fußballspiel im Fokus eines Terroranschlags – noch dazu im Land des EM-Gastgebers! Trotz allem dürfen wir uns davon nicht vereinnahmen lassen, auch wenn die latente Terrorismus-Gefahr wie ein Schatten über dem Fußballfest liegen wird. Die Vorfreude ist aber heutzutage ohnehin wesentlich geringer als früher. Auch wenn eine WM oder EM jedem Fußballbegeisterten noch immer über die Sommerpause hinweghilft. Selbst 2006 war die Stimmung anfangs eher verhalten, obwohl sich die Werbebranche alle Mühe gab, uns total heiß zu machen. Wenn es dann aber «läuft», ist man doch gefangen und kann sich dem Geschehen kaum entziehen.
RL | Was macht den Reiz dieser Fußballgroßereignisse aus?
BR | Unsere Wahrnehmungen intensivieren sich. Selbst die Erinnerungen wirken wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet: Ich weiß noch genau, dass wir 1986 zum WM-Finale die Vorhänge schließen mussten, weil das Spiel in Mexiko am frühen Abend übertragen wurde und die Sonne direkt auf den Fernseher fiel. Ich erinnere mich an das verlorene EM-Halbfinalspiel 1988 gegen die Niederlande. Mein Bruder und mein Vater waren nicht zu Hause, meine Mutter korrigierte Schulhefte und ich fühlte mich furchtbar einsam. Aber natürlich sind es vor allem die Spiele selbst, die uns fesseln. Und die Spieler. Wer wird der Star dieser vier Wochen? Wer zeigt sich, den man bisher noch nicht kannte? Und schließlich sind die großen Turniere immer Gemeinschaftsereignisse. Womit ich nicht so sehr das «Public Viewing» meine, sondern die unzähligen privaten Fußball-Erlebnisse im kleinen und kleinsten Kreis.
RL | Durch Ihre Worte hindurch wird der fußballbegeisterte Junge Ben sichtbar. Welche glückliche Konstellation hat Sie aus der Wohnzimmer-Zuschauerrolle zum – ich zitiere den Radiosender 1LIVE – «ersten Fußball-Kulturschaffenden in Vollzeit» geführt?
BR | Eigentlich musste ich nur die beiden großen Leidenschaften meiner Kindheit miteinander verbinden. Ich komme aus einem klassischen Lehrerhaushalt. Bei uns gehörten Bücher ganz selbstverständlich zur Grundausstattung des Lebens. Sooft ich mich zurückerinnere, sehe ich mich auf dem Boden liegen und lesen. Oder Fußball spielen! Wir haben auf der Straße «gepleckt», mit imaginären Toren zwischen Bordsteinkante und Gullideckel. Und der Weg zum Fußballfan des VfL Bochum war auch nicht weit, denn wir wohnten kaum eine Viertelstunde Fußweg vom Ort meiner Sehnsucht entfernt – und ich bin schon als kleiner Junge an der Hand meines Vaters zum ersten Mal ins Stadion gegangen.
RL | Ihren Beruf haben Sie dann später regelrecht erfunden!
BR | Ich habe gerade ein Buch über die sogenannten «Zufälle des Lebens» gelesen. Als die Zeit reif war, meinten diese Zufälle es ziemlich gut mit mir. Am Ende meines Studiums – Deutsch und Sozialwissenschaften – war ich Teilnehmer des allerersten «Fußball-Universitätsseminars», das je in Deutschland durchgeführt wurde. Wir hatten eine Menge Spaß und haben uns am Ende mit einer selbst inszenierten Bühnenveranstaltung verabschiedet. Als Gäste eingeladen hatten wir den VfL-Profi Thomas Stickroth und den Radio-Fußballkommentator Holger Pfandt. Wir haben uns aus dem wenigen bedient, was es an Fußballliteratur gab (Nick Hornby natürlich, aber auch andere Autoren), und ein Programm präsentiert, dass die Leute – einschließlich uns selbst – total begeistert hat. Das war im gleichen Jahr, in dem das Magazin für Fußballkultur 11 Freunde entstand, auch wenn wir noch nichts davon mitbekommen hatten, weil die Jungs ihre Hefte damals noch vor dem Berliner Olympiastadion aus dem Rucksack verkauft haben.
RL | Wie war dann der Schritt vom gelungenen einmaligen Fußballunterhaltungsabend zu den regelmäßigen Auftritten des Solointerpreten Ben Redelings?
BR | Nach weiteren Kulturabenden (ohne Fußball!) und nach der vorübergehenden Gründung einer Dreimann-Künstleragentur, hatte ich wahnwitzigerweise die Idee, einen abendfüllenden Film zu drehen: Wer braucht schon ein Sektfrühstück bei Real Madrid? Eine Dokumentation über die Fans des VfL Bochum. Komplett selbst gedreht, handwerklich grauenhaft und der pure Größenwahn. Aber finanziell und in der Publikumsmeinung tatsächlich erfolgreich. In dem Moment meldete sich irgendwo in mir der Gedanke: Wenn das funktioniert, dann könnte es auch weiter funktionieren …
RL | … unter anderem mit Ihren Fußballabenden, die in der Zwischenzeit zur Institution geworden waren. Wie lief und läuft ein solcher Abend ab?
BR | Ich habe mich anfangs gefragt: Welche Formen von Fußballunterhaltung würden mich selbst interessieren? 2000 waren wir da schon sehr nah dran. Eine Mischung aus Autorenlesung und Fußballpromi-Entertainment – das funktioniert, vor allem wenn du solche Granaten wie Willi «Ente» Lippens auf der Bühne hast, die mitspielen und wissen, was das Publikum hören will. An den Abenden mit Promi-Beteiligung ist einiges sehr spontan und man weiß nie, wohin die Reise geht – wichtig ist nur, dass die jeweilige «Geschichte» stimmt. Die Soloabende dagegen sind durchchoreographiert und enthalten viel Wiederkehrendes. Das sind dann regelrechte Stand-Up-Programme, in denen ich nicht lese, sondern Anderthalbstunden aus dem Nähkästchen plaudere und auf das zurückgreife, was ich über die Protagonisten zu erzählen habe, vermischt mit tagebuchartigen Sequenzen. Dichtung und Wahrheit – Geschichten, die so passiert sind oder sein könnten.
RL | «Protagonisten-Wissen» – was Sie gerade im Nebensatz nur gestreift haben, muss jeden, der Ihre Bücher auch nur überfliegt, völlig verblüffen: Wie um alles in der Welt hat sich ein einzelner journalistischer Akteur diese ungezählten Fußball-Fakten bloß «draufgeschafft»?
BR | Das hat mit einem Phänomen der Selbstausbeutung zu tun, das auch andere Selbstständige kennen. Niemand sagt dir, wann genug ist – außer vielleicht dein Körper! Für das Buch 50 Jahre Bundesliga habe ich zweieinhalb Jahre bis zu 14 Stunden täglich in alten Zeitungsjahrgängen recherchiert – bis ich buchstäblich vor lauter Schmerzen nicht mehr sitzen konnte.
Allerdings war diese Arbeit von wirklich «göttlichen Momenten» begleitet, vor allem wenn du etwas ausgräbst, das es nirgendwo sonst in die Überlieferung geschafft hat. Ich habe allerdings lange gebraucht, um zu begreifen, dass ich da einen Schatz habe, mit dem ich wuchern kann – ganz gleich ob in meinen Programmen oder für meine Artikel und Kolumnen bei n-tv-online, 11 Freunde oder Reviersport.
RL | Sie haben vor einem Jahr einen Monat Fußballfasten eingelegt – warum?
BR | Zum einen war ich wirklich neugierig, was passieren würde, wenn ich mich gegen jede noch so unbedeutende Fußballnachricht abschotten würde. Aber es steckte noch mehr dahinter. Ich ging auf die Vierzig zu und habe mich gefragt: Bin ich beruflich in einem Bereich unterwegs, der mir in den nächsten Jahrzehnten immer noch Freude machen wird? Dabei ist der Fußball selbst nicht das Problem, sondern das Drumherum: Die schmutzigen Geschäfte der FIFA. Der ganze aufgeblähte Hype des Profigeschäfts, der mit dem Privatfernsehen begann und bis heute immer banalere Themen künstlich hochpusht. Da konnte und kann ich gut drauf verzichten! Ganz anders sah die Sache für mich als Fußballfan aus. Denn wenn du alle zwei Wochen zu einem Heimspiel gehst, bist du mehr als ein bloßer Zuschauer. Du triffst deine Stehplatzkollegen und zusammen schafft man für diese zwei Stunden eine ganz eigene Welt, in die man wunderbar entspannt abtauchen kann – und eine Gemeinschaft, bei der alle trennenden sozialen Besonderheiten völlig unwichtig sind.
RL | Eine Gemeinsamkeit auch über Vereinsgrenzen hinaus?
BR | Natürlich! Fußballfans sind eine sehr homogene Gruppe. «In den Farben getrennt, in der Sache vereint», ist ein sehr treffendes Motto und ein Ansatz, den man gerne häufiger sehen möchte, wenn es um andere «soziale Projekte» geht. Natürlich gibt es in den Stadien die Unverbesserlichen – gewaltbereite Hooligans oder Pyro-Werfer –, aber wo sonst kommen Woche für Woche 400.000 Leute zusammen und es passiert fast nichts? Und über die großartige gesellschaftliche Arbeit in den unteren Ligen brauchen wir schon gar nicht sprechen. Es ist wirklich so: Das Thema Fußball verbindet – weltumspannend!
RL | Wer Ihre Bücher liest, bemerkt das Vergnügen, das Sie insbesondere an den Protagonisten vergangener Jahrzehnte haben – was unterscheidet die Tage eines Maradona vom heutigen Fußball?
BR | Sportlich hat sich einiges verändert. Das Spiel ist schneller geworden – da gibt es keine zwei Meinungen. Die Spieler sind heute viel austrainierter. Auf den Mannschaftspostern der 80er-Jahre sieht man häufig noch ein kleines Bäuchlein. Sympathischer sind uns die Spieler dadurch nicht geworden. Selbst wenn einer mal richtig «nett» ist, fragst du dich gleich, ist das ein Imageprodukt oder ist der wirklich so? Heute sind außerdem alle im «Fußballbusiness» so furchtbar politisch korrekt und «anekdotenfrei». Mit dem Fußball, den ich kennen und lieben gelernt habe, hat das nicht mehr viel zu tun – aber letztlich ist auch das nur ein Spiegel unserer Gesellschaft.