Jochem Myjer im Gespräch mit Rolf Erdorf

Immer für die Liebe

Nr 208 | April 2017

Jochem Myjer (39) hat sein erstes Kinderbuch geschrieben, das ich übersetzen durfte. «Die Gorgel» heißt es und ist eine liebevolle, warmherzige kleine Inselgeschichte voll Fantasie und gleichzeitig präziser Naturbeobachtung. Doch ist seine eigene Geschichte nicht viel größer? Das ganze Land kennt sie, denn Jochem Myjer zählt zu den beliebtesten Comedians in den Niederlanden, und die Medien haben viel über seine Erfolge und auch sein jüngeres Schicksal berichtet – den plötzlich entdeckten Rückenmarktumor und die dreizehnstündige Operation im Jahr 2011, die sehr leicht zu einer Querschnittslähmung oder gar zum Tod hätte führen können. Von «Wiederauferstehung» war die Rede, wenn sein zähes Ringen um die Wiedererlangung seiner Gesundheit und Beweglichkeit beschrieben wurde, denn alles musste er neu lernen: seinen Körper spüren, Stuhl und Blase kontrollieren, gehen, sitzen und stehen – schließlich auch wieder auf der Bühne.
Als richtiger Hansdampf hat sich der Comedian in seinen abendfüllenden Shows präsentiert, geradezu unnachahmlich schnell, witzig und energiegeladen. Dieses Überbordende begleitet ihn schon ein Leben lang, und es gibt auch eine Diagnose dafür: ADHS. Schon als Kind war er hochbegabt und hyperaktiv, nicht immer zum Vergnügen seiner Umgebung. Seine Mutter musste ihn oft gleich wieder von der Schule abholen, kaum dass sie ihn dorthin gebracht hatte. Dann klingelte das Telefon daheim, schon bevor sie ihren Mantel ausgezogen hatte.
Ich erscheine etwas zu früh zu unserem Gesprächstermin bei seiner Theaterproduktionsfirma in der Oranjekerk, einer renovierten, teils zu Büroräumen umgebauten Kirche im Amsterdamer Stadtviertel De Pijp. Jochem Myjer ist noch nicht da, und seine Managerin nutzt die Situation für den leisen Hinweis, dass Jochem sich noch immer schonen müsse und ich ihn auch zeitlich nicht zu sehr beanspruchen dürfe. Auch darauf sei ich schon vorbereitet, erkläre ich ihr.
Dann platzt mein Gesprächspartner, «mein» Autor, zur Tür herein, unter dem Arm zwei Weinkartons. Er gibt mir kurz die Hand, entschuldigt sich, muss noch mal hinaus und kommt mit zwei Einkaufstüten wieder. Er will alle Mitarbeiter der Produktionsfirma – ein knappes Dutzend Leute – mit einer
Flasche Wein und einer Schachtel Gebäck beschenken (unser Gespräch fand in der Vorweihnachtszeit statt). Schon ruft er nacheinander alle einzeln beim Vornamen, verbunden mit der Frage: «Rot oder weiß?», und saust auch gleich mit Gebäckschachtel und der entsprechenden Flasche Wein zum jeweiligen Schreibtisch. Statt Selbstschonung oder einem behutsamen Umgang mit seinen Energiereserven erlebe ich eine Demonstration seiner schon sprichwörtlichen Hibbeligkeit. Und seiner ebenfalls schon sprichwörtlichen Sorge darum, dass sich alle Menschen in seiner Umgebung wohlfühlen.
Jetzt hat Jochem Myjer Zeit für mich, erkundigt sich, ob ich schon einen Kaffee bekommen habe, und will erst einmal einiges von mir wissen. Eine tickende Uhr im Kopf (der Hinweis der Managerin), beantworte ich ihm erst seine Fragen – woher ich meine Sprachkenntnisse habe und was das Übersetzen für mich bedeutet –, erst dann darf ich ihn befragen.

Rolf Erdorf | Herr Myjer, wie sind Sie dazu gekommen, ein Kinderbuch zu schreiben?
Jochem Myjer | Ich habe selbst als Kind immer gelesen. Beim Aufräumen habe ich einmal eine Mappe mit lauter Kinderzeichnungen von mir gefunden. Wenn die Lehrerin in der Schule vorlas, dann zeichnete ich das. Ich finde es so schön, dass man mit einer Geschichte in den Kopf eines Kindes kommen kann und dann dort Bilder entstehen. Das ist eigentlich auch das, was ich auf der Bühne mache. Das Verrückte ist ja, dass ich als einziger Kabarettist oder Comedian in den Niederlanden auch Acht- bis Zehnjährige im Publikum habe. Und was ich auf der Bühne tue, ist im Grunde auch sehr kindlich.

RE | Spielte Ihre Erkrankung beim Schreiben ein Rolle?
JM | Als ich so krank war, dachte ich – das werden andere auch kennen: Uff, habe ich in meinem Leben alles getan, was ich tun wollte? Und sofort, nachdem es mir besser ging, habe ich gesagt: Ich werde ein Kinderbuch schreiben.

RE | Vielleicht auch, weil das Schreiben körperlich leichter war?
JM | Ich schrieb damals schon an meiner Show, und das Schreiben war tatsächlich physisch leichter für mich als später die Vorstellung. Eine Show zu schreiben macht mir aber keinen solchen Spaß, weil es im Grunde noch nichts ist – da fehlt noch der Pulsschlag. Das Ganze lebt erst, wenn ich auf der Bühne stehe. Ich brauche da immer die sofortige Rückmeldung aus dem Publikum: zack-zack-zack, hin-her-hin-her – wie beim Tennis. Beim Buchschreiben fehlte diese direkte Rückmeldung, und ich musste einen Text produzieren, der diesen Herzschlag bereits enthält. Was mir unheimlich viel Freude gemacht hat.

RE | Kinderliteratur ist ein eigenes Fach, mussten Sie das nicht erst lernen?
JM | Ich habe mich an dieses Schreiben herangetastet. Mir war klar: Ich kann das nicht, ich bin ein Anfänger, aber ich habe Ideen und Kreativität, und ich weiß, wie ich eine Geschichte erzählen muss. Jeder Kabarettist kann Geschichten erzählen, das wusste ich. Ich habe das Manuskript wieder und wieder meiner Lektorin geschickt – ich kenne sie auch privat – und bekam es immer mit vielen Anmerkungen zurück. Ich habe ein Jahr daran ge­arbeitet, und sie hat mir sehr viel beigebracht.

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Fotos: © Anne Reitsma | www.annereitsma.nl | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

RE | Bei Kinderbüchern wird immer nach den Themen gefragt, eventuell auch nach einer Botschaft. Gibt es die in Die Gorgel?
JM | Mir geht es nicht um die Weltprobleme. Mein Bezugs­rahmen bin immer ich selbst. Denn klar ist: Was ich erlebe, das erleben andere Leute auch; man kann es wiedererkennen. Wir Kabarettisten setzen stets auf Wiedererkennbarkeit. Außerdem – das gilt für meine Kinder­bücher wie für meine Shows – entscheide ich mich ohnehin immer für das Positive, immer für die Liebe. Was ich erlebe, sind immer ganz grundlegende Dinge, die, wenn auch jeweils etwas anders, jeder erlebt. Und das findet man auch in Die Gorgel wieder, in den kleinen Dingen, einer netten Familie und lieben Großeltern, in dem, was wir mit Wärme verbinden. Vielleicht ein wenig standardmäßig, ein wenig so wie der Tannenbaum an Weihnachten. Es kann ein ganz moderner Baum sein, aber wir wollen halt einen Weihnachtsbaum, wollen mit einem Glas Rotwein am Kaminfeuer sitzen. So bin ich gestrickt, das ist meine Art zu leben. Wenn man merkt, dass es jemanden gibt, der für einen sorgt, ist das einfach ein gutes Gefühl. Das kleinen Kindern mit­zu­geben, finde ich schön – und es ist mir lieber, als die gesellschaftlichen Probleme wie beispielsweise Hänseleien in der Schule oder Entwicklungsschwierigkeiten zu beschreiben. Das können andere besser. Mir war es sehr wichtig, ein warmes Buch zu schreiben.

RE | Im Buch steckt ohnehin viel von Ihnen drin: ein Junge mit wildem Lockenkopf, sein Interesse für die Natur, seine Liebe zu einer Nordseeinsel …
JM | Das Verrückte ist, dass ich das gar nicht bewusst so gemacht habe. Aber wenn ich es jetzt nachlese, steckt das wirklich alles darin. Bobba, der krank wird und wieder gesund, der das Treppensteigen und dergleichen übt, das ist haargenau meine Rehabilitation. Aber darauf aufmerksam gemacht wurde ich erst im Nachhinein.

RE | Inwiefern hat diese Erfahrung Sie verändert?
JM | Manchmal sage ich, auch wenn das schlimm klingen mag: Eigentlich sollte jeder einmal eine Nahtoderfahrung machen. Warum? Ich hatte mein ganzes Leben lang Angst vor dem Tod. Dann habe ich ihm einige Stunden lang direkt ins Auge gesehen – und habe niemals mehr Angst gehabt, auch nicht einen Funken. Die Relativität des Lebens zu sehen war für mich so wichtig. Jetzt stehe ich anders im Leben, stehe auch anders auf der Bühne. Dort wird es persönlicher. Es war schon immer schön, die Leute zum Lachen zu bringen und Kinder zu verzaubern, aber jetzt ist etwas hinzugekommen, das mich noch mehr auf das vertrauen lässt, was ich bin, weswegen ich mich stärker als früher dem Inhalt statt der Form zuwende.

RE | De Gorgels war und ist in den Nieder­landen ein Bestseller (die deutsche Ausgabe von Die Gorgel ist im März erschienen) – und die Geschichte ruft förmlich nach einer Fortsetzung. Wird es sie geben? Und wird es wieder eine Inselgeschichte?
JM | Ja, unbedingt – zumindest zur Fortsetzung. Es gibt Leute, die verstecken sich am liebsten im Wald, um sich sicher zu fühlen. Andere dagegen wollen den Überblick, wollen auf einem Hügel sitzen, über eine weite Landschaft blicken und die Gefahr schon von Weitem ankommen sehen. Ich gehöre eindeutig zur zweiten Kategorie. Daher die Nordseeinsel im Wattenmeer. Die neuen Gorgel aber spielen in den Schweizer Alpen, die ich auch sehr mag. So oder so: die Grundlage ist eine faszinierende Natur.

RE | Da merkt man sofort, dass Sie ursprünglich Biologe sind.
JM | Das stimmt – und wenn ich mit meinen Kindern durch die Natur laufe, versuche ich ihnen zu zeigen, dass da nicht bloß ein Vogel fliegt, sondern ich erkläre ihnen auch, welcher Vogel es ist. Und ich zeige ihnen Pflanzen und lasse sie daran riechen. Sie sollen sie kennenlernen. Das ist wichtig. Ich versuche, ihnen ein Bewusstsein für die Natur zu vermitteln. Das tue ich auch mit Die Gorgel, denn ohne die Natur wären wir ziemlich verloren – ob auf einer Insel oder auf den Bergen.