Bei manchen Themen kann fast jeder mitreden: das Wetter (schlecht), die anderen (dumm), Europa (bürokratisch). Aber ist alles und vor allem «nur» schlimm? Das andere Gesicht Europas – das freundliche, offene – breitet sich seit Anfang 2017 in den Städten Deutschlands und Europas zunehmend aus: Die Bürgerinitiative «Pulse of Europe», gegründet in Frankfurt am Main, zieht Tausende Bürger auf die Straße (sonntags, um 14 Uhr, ab Mai jeden ersten Sonntag im Monat). Sie demonstriert für etwas, dessen Wert fast vergessen schien – für Europa, die demokratische, vereinte, friedliche Europäische Union (EU). Kurze Redebeiträge zu Europa ergänzen Teilnehmer, erinnern an den Krieg vor über 70 Jahren, erzählen von ihren Freunden und Partnern aus dem europäischen Ausland, weisen auf Reisen ohne Formalitäten hin. Beim gemeinsamen Mit-Tun, Zuhören, Singen (Schillers «Ode an die Freude» zu Beethovens Neunter) macht «Pulse of Europe» offensichtlich auch Freude. Die EU muss auch eine «Herzensangelegenheit» der Bürger sein, wenn sie weiter bestehen bleiben soll, meinen Karl-Burkhard Haus (links im Foto oben) und Hansjörg Schmitt (die zum achtköpfigen Initiativ-Kreis gehören).
Doris Kleinau-Metzler | Wie kommen Sie dazu, sich vor einige hundert Menschen zu stellen und zu erzählen, weshalb Europa wichtig ist?
Karl-Burkhard Haus | Wir sind beide befreundet mit dem Ideengeber Daniel Röder, der mein Nachbar war, Hansjörg Schmitt kennt ihn über seine Kinder. Die Zukunft unserer Kinder ist für uns alle ein wichtiges Motiv, um Europa zu stärken – denn wir wissen, dass wir alle bisher von der Europäischen Union profitieren, von dem Frieden, von der Offenheit der Grenzen, der Rechtssicherheit. In der globalen, vernetzten Welt gibt es zudem viele Probleme wie Klimaveränderungen und Flüchtlingsnot, die kein Land allein bewältigen kann. Konkreter Auslöser war für mich die Wahl von Trump in den USA und das Hervortreten starker nationalistischer Parteiführer in den Niederlanden und in Frankreich – die die Europäische Union für fast alle Probleme verantwortlich machen und stattdessen nur einfachste nationalistische Rezepte aus der Vergangenheit anbieten. Wenn sich diese Tendenz ausbreitet, kann die mühsam aufgebaute europäische Vereinigung kaputt gehen. Es sind Schicksalsjahre Europas! Das hat mich dazu gebracht, den Schritt vom interessierten zum aktiven Bürger zu tun.
Hansjörg Schmitt | Mir ist bewusst, was für ein Geschenk es ist, in dieser Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geboren zu sein und Frieden und Freundschaft, zum Beispiel zu Frankreich, zu erleben. Mein Vater, mein Großvater waren Teilnehmer an beiden Weltkriegen; die Nähe, die Partnerschaft, die wir heute zu Frankreich haben, war damals undenkbar. Ich bin Rechtsanwalt und war schon als Jugendlicher politisch sehr interessiert, zeitweise auch in einer Partei engagiert.
Für mich war der «Brexit» (die knapp gewonnene Abstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der EU) der Anlass, aktiv zu werden, denn das Gefüge der EU wird damit für Generationen verändert (wenn es dabei bleibt). Ich fühlte mich ohnmächtig. Dann gab es intensive Gespräche mit Daniel Röder und anderen – und man merkte: Uns ist der Wunsch gemeinsam, die EU zu erhalten. Deshalb wollten wir konstruktiv dazu beitragen, die positiven Seiten Europas in der Öffentlichkeit bewusst zu machen. Denn Europa ist keine Sache der Politiker, sondern unser gemeinsamer Lebensraum – und daher auch eine Sache des Herzens!
DKM | Konstruktiv heißt aufbauend, stärkend. Was können einfache Bürger dazu beitragen, Europa zu stärken?
HS | Als Bürger haben wir andere Möglichkeiten als die Politiker. Doch uns ist oft nicht bewusst, dass wir das Gemeinwesen tragen und gestalten. Viele Teilnehmer von Pulse of Europe (PoE) sind noch nie auf einer Demonstration gewesen – jetzt wollen sie ein Zeichen für Europa zu setzen. Manche fragen: «Was kostet es, den Goetheplatz zu mieten?» Das ist umsonst, denn es ist unser demokratisches Recht, das Versammlungsrecht! Man muss die öffentliche Veranstaltung nur anmelden bei der Stadt. «Und die Polizei?» Die kommt dann automatisch, wie bei jeder großen öffentlichen Veranstaltung. Die riesige Ausweitung von PoE vermittelt: Wir Bürger wollen Europa, wir sehen darin ein erhaltenswertes Zukunftsmodell und fühlen uns darin freundschaftlich den anderen europäischen Ländern, ihren Bürgern, verbunden. Wir konnten zu den Holländern und Franzosen in Form von kreativen bunten Aktionen, Fotos und Sprüchen, die massenhaft über das Internet verbreitet wurden, sagen: «Bleibt bei uns! Geht wählen, aber denkt dabei an das, was Europa ist und sein kann.» Die Resonanz bestärkt uns.
DKM | Dennoch gibt es Europa-Skepsis mit dem Vorwurf von zu viel Bürokratie, zu viele Vorschriften.
KBH | Wir haben den Eindruck, dass die Regelungswut, die uns manchmal aus Brüssel erreicht, auch ein Ventil dafür ist, dass entscheidende Fragen nicht angepackt werden können (obwohl es durchaus sinnvolle Regelungen gibt). Sicher gibt es Auswüchse, aber sogar bei jeder Urlaubsreise kann man viele von der EU unterstützte gute Projekte sehen wie Brückenbauten, Naturschutzgebiete. Auch die Bürokratie in Brüssel ist besser als ihr Ruf, wie man in Untersuchungen nachlesen kann. Es scheint, dass manche Politiker die Ursache großer Probleme vor allem in anderen, in Brüssel sehen, statt da anzusetzen, wo sie wirken können. Die Arbeit an gemeinsamen Problemen wie Klimaverbesserung, Armutsbekämpfung und Außen- und Sicherheitspolitik wird auch durch die derzeitige Verteilung der Befugnisse in der EU erschwert, denn der aus den nationalen Regierungen entsandte Ministerrat ? und nicht das von allen Bürgern direkt gewählte EU-Parlament ? ist bisher das entscheidende Machtzentrum.
Die Lage, in der wir uns derzeit befinden, ist schwierig, in mehrfacher Hinsicht, aber sie beinhaltet auch eine immense Chance: Jedem verantwortlichen Politiker muss nun klar sein, dass der europäische Gedanke weiterentwickelt werden muss. Und Europa ist eine Sache von uns Bürgern, die mit Herz und Verstand für Europa eintreten!
DKM | Wie geht es weiter mit Pulse of Europe?
KBH | Manche belächeln unsere Bürgerinitiative von Anfang an, sagen: wenig Inhalt, zu locker und aktionistisch mit Händchenhalten, Musik usw. und reden unseren Erfolg als Bewegung klein. Aber wenn ich Menschen auch emotional ansprechen und überzeugen will, ist es nicht sinnvoll, sie vor allem mit Negativem und einem Berg von Forderungen zu überschütten. Deshalb glauben wir, dass das positive Element ein wichtiger Hebel ist, um Europa voranzubringen. Europa als großes technokratisches Monster braucht einen positiven emotionalen Schub ? nur so kann sich die Europäische Union entwickeln! Deshalb konzentrieren wir uns als Bürgerbewegung auch in Zukunft darauf.
HS | Und das Thema Europa muss nicht langweilig sein ? immer schon gab es in der Geschichte der Demokratie Versammlungen, Feiern, die die Bevölkerung bewegt und angespornt haben, wie beispielweise das große Hambacher Fest 1832 (vgl. www.demokratiegeschichte.eu). Gemeinsam zu demonstrieren, Ideen für Sprüche und Lieder zu entwickeln, ein bisschen zu feiern im Zentrum unserer Städte, das tut gut und macht Spaß. Da können wir weiter noch einiges voneinander lernen und neue Ideen ausprobieren. Um die Verständigung der Europabürger untereinander zu fördern, könnte europaweit der Spracherwerb intensiv gefördert und ausgeweitet werden, ebenso wie Austauschprogramme von Schülern, Studenten und dazu auch jungen Auszubildenden und Angestellten. Städtepartnerschaften könnten wieder aufleben, auch ein preisgünstiges Interrail-Ticket, um per Bahn günstig das europäische Ausland zu besuchen.
KBH | Lange galt Europa als Thema, an dem man sich als Politiker nur die Finger verbrennen kann. Wir wollen aber Politikern Mut machen, sich zu Europa zu bekennen und konkrete Vorschläge zu machen. Manche fordern das jetzt von uns. Warum eigentlich? Die Fachleute, die gewählten Politiker an den Orten der Entscheidung haben die Verantwortung für eine gemeinsame europäische Politik – statt nur zu versuchen, das Beste für ihr eigenes Land herauszuholen.
HS | Wir sind mit PoE professionell geworden, inzwischen gibt es eine mit Spendengeldern finanzierte Geschäftsstelle in Frankfurt. Wir wollen keine eigene Partei werden, wie manche fragen. Aber wir können die Politik anstupsen, unser Anliegen ernst zu nehmen. Als Bürgerinitiative, als unmittelbar Handelnde können wir ? anders als die etablierten Regierungschefs – auch zu einer länderübergreifenden Solidarisierung beitragen. Damit können wir Menschen bestärken, die sich in europäischen Ländern engagieren, in denen die Werte wie Rechtssicherheit und eine freie vielfältige Presse bisher weniger gut umgesetzt werden.
Unsere Demokratie ist eine offene Staatsform. Deshalb könnten sich antidemokratische, radikale Kräfte durchsetzen, wenn wir sagen: «Es bleibt wohl alles beim Alten. Es kommt nicht auf mich an.» Doch wenn viele so denken und nicht zur Wahl gehen, werden die tatsächlichen Mehrheiten im Wahlergebnis verzerrt. Es kommt auf jeden Einzelnen an! Deshalb ruft Pulse of Europe dazu auf, auf jeden Fall wählen zu gehen! Auch bei der kommenden Bundestagswahl.