Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit einem Freund in einem Café und stoßen auf die Freiheit an. Und Sie werden deshalb verhaftet und kommen ins Gefängnis. Unmöglich, hier und heute, denken wir. 1961 war genau das, die Verhaftung zweier Studenten in Portugal (damals eine Diktatur), Auslöser für die Gründung von «Amnesty International»: Der englische Anwalt Peter Benenson rief dazu auf, mit Appellschreiben, öffentlichen Druck auf die Regierung auszuüben und die Freilassung zu fordern. Seitdem setzt sich «Amnesty International» weltweit für Menschenrechte ein, denn jeder Mensch braucht seine Menschenrechte – «um Mensch sein zu können», wie Markus N. Beeko, Generalsekretär von «Amnesty International in Deutschland», sagt. Nach wie vor werden uns selbstverständlich erscheinende Rechte weltweit missachtet, Menschen aufgrund ihrer Meinung, Religion, Hautfarbe, Ethnie verfolgt, eingesperrt, gefoltert, ermordet. Auch der heutige türkische Präsident Erdogan wurde 1998 als gewaltloser politischer Gefangener von Amnesty betreut. Dass die Missachtung von Menschenrechten nicht im Verborgenen bleibt und Menschen geholfen werden kann, beweist Amnesty nicht zuletzt mit seinen vielen ehrenamtlichen Unterstützern, die Mails und Briefe schreiben, Veranstaltungen organisieren, informieren.
Doris Kleinau-Metzler | Herr Beeko, wenn man in die Medien schaut, kann man fast verzweifeln – so viel Gewalt, so viel Leid aufgrund von Kriegen und staatlicher Repression. Gibt es denn auch Verbesserungen?
Markus N. Beeko | Vieles kann Mut machen! Mut macht, dass wir in einer Zeit leben, in der die elementaren Menschenrechte uns selbstverständlich scheinen. Es ist eine immense Errungenschaft des letzten Jahrhunderts, dass wir heute frei entscheiden können, woran wir glauben, wen wir lieben, wie wir leben wollen. Großartig ist, dass 1948 von den Vereinten Nationen in 30 Artikeln die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben wurde, deren Kern ist, dass alle Menschen frei und gleich sind an Rechten und Würde. Damals wie auch heute gab und gibt es Rechte, die nur einzelnen Menschen oder Gruppen zuerkannt wurden, andere wurden ausgegrenzt. Aber nach 1948 gab es dann mehr und mehr Gesetze, internationale Normen, Abkommen und Institutionen, die bei schweren Menschenrechtsverstößen zumindest die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, wie zum Beispiel den Internationalen Strafgerichtshof oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Diese Institutionen setzen sich für Gerechtigkeit und Aufklärung ein und ihre Gerichtsverfahren haben eine abschreckende Wirkung auf die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen, unter anderem durch die öffentliche Aufmerksamkeit.
Das alles ist wichtige Voraussetzung dafür, dass heute viele Menschen in vielen Ländern entweder ihre Menschenrechte wahrnehmen können – oder, wenn sie es nicht können, zumindest eine Grundlage haben, um sie für sich einzufordern. Im Einzelfall ist es oft ein langer Weg dahin ? auch wenn wir uns wünschen, dass sich die Situation schnell verbessert, gerade auch für Menschen in Gebieten mit bewaffneten Konflikten. Das heißt, wir sind auch heute weltweit gefordert, Menschenrechte einzufordern.
DKM | Was kann man als Einzelner tun?
MNB | Genau wie Benenson 1961 müssen wir auch heute nicht tatenlos zusehen, wie Journalisten, Schriftsteller, Rechtsanwälte, Gewerkschafter, Aktivisten, aber auch Bürger, die friedlich für ihre Freiheits- und Grundrechte eintreten, zunehmend unter Druck geraten, eingesperrt werden ohne fairen Prozess.
Amnesty International ist eine offene Mitgliederbewegung. Jeder kann sich auf unterschiedliche Weise engagieren: Als Schüler in einer Schülergruppe, in einer der vielen lokalen Gruppen; man kann sich bestimmten Themen widmen, wie der Bildungsarbeit für Menschenrechte oder dem Einsatz gegen Folter, oder Gefangene in bestimmten Ländern betreuen oder sich auch als Einzelner an «Eilaktionen» (Urgent Actions) für Gefangene per E-Mail oder Brief beteiligen. Menschenrechte können im Schulunterricht, im Freundeskreis, in der Gemeinde, im Theater angesprochen und so lebendig werden – denn es wird immer Menschen brauchen, die für die Idee der Menschenrechte eintreten. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Politiker oder Regierungen das schon regeln. Unser Engagement ist wesentlich!
DKM | Gibt es denn Erfolge der Arbeit von Amnesty International?
MNB | Konkret sind beispielsweise allein im letzten Jahr 650 Menschen, für die Amnesty sich eingesetzt hatte, aus rechtswidriger Haft freigekommen. Auch durch sie wissen wir, wie wichtig, wie ermutigend es für die Betroffenen und für ihre Angehörigen ist, wenn sie durch viele Briefe und Appelle erfahren, dass sie nicht allein sind. Aber auch Zugang zu medizinischer Versorgung, das Anzeigen unmenschlicher Haftbedingungen und Folter ist oft überlebenswichtig; außerdem schaffen wir auch Öffentlichkeit, damit Regierungen oder bewaffnete Gruppen Menschen nicht einfach verschwinden lassen können. Zu den organisatorischen Herausforderungen gehören Ermittlungsarbeiten und Kontakte vor Ort in den jeweiligen Ländern, Berichte zur Situation und rechtliche und materielle Unterstützung der Betroffenen. Immer wieder können wir konkret etwas erreichen.
Viele Menschen weltweit hoffen auf uns, und Amnesty ist weltweit stark gewachsen. Heute gibt es viele Aktivisten in Ländern des globalen Südens wie in Kenia, Sierra Leone, Nepal oder Thailand. Sie haben dann konkrete Anliegen im eigenen Land, engagieren sich aber auch in anderen Ländern, etwa indem sie für Religionsfreiheit in Saudi-Arabien eintreten oder gegen Folter in den USA protestieren. Das ist unsere Stärke, denn dadurch sind wir glaubwürdig als eine globale, übernationale Plattform für Menschenrechte. Weltweit gibt es 70 Ländersektionen und 7 Millionen Unterstützer. Bei allen Unterschieden verbindet uns unser Glaube an die Idee der Menschenrechte.
DKM | Es macht viele Menschen hier fassungslos, dass uns aus der Türkei, einem Land, mit dem Europa und besonders Deutschland vielfältig verbunden ist, immer wieder Berichte erreichen, die zeigen, dass in letzter Zeit Informations- und Meinungsfreiheit und ein faires rechtliches Verfahren nicht möglich sind. Im Juli wurden sogar Mitarbeiter von Amnesty festgenommen, eingesperrt ? obwohl Staatspräsident Erdogan, als er noch nicht an der Macht war, selbst vom Engagement von Amnesty profitierte.
MNB | Ja, das Recht mit friedlichen Mitteln für seine Überzeugung einzutreten, gilt für jeden Menschen – ausnahmslos. 1998 war Recep Tayyip Erdogan ? in einer anderen politischen Situation in der Türkei – ein von Amnesty betreuter gewaltloser politischer Gefangener. Nun werden unter seiner Regierung Menschen aufgrund ihrer friedlich vertretenen Überzeugung verfolgt, es gibt keine rechtsstaatlichen Verfahren ? und selbst unsere Mitarbeiter werden eingesperrt und beschuldigt, gegen den Staat zu arbeiten. Dabei geht es uns immer und ausschließlich um die Menschenrechte, die jedem Einzelnen zustehen – egal, wann und wo, und auch wenn er für einen Staat unangenehme Meinungen vertritt! In Ländern wie der Türkei, Russland oder Ägypten, wo friedliche Kritiker pauschal zu Gegnern erklärt werden, wird Amnesty International tätig. Deshalb appellieren wir immer wieder an Regierungen, Menschenrechtsstandards und -verstöße in den Mittelpunkt ihrer internationalen Gespräche zu stellen ? und sich aktuell konkret für die Freilassung der Inhaftierten in der Türkei einzusetzen. Die Türkei will ja Teil der internationalen Staatengemeinschaft bleiben. Diplomatie und öffentliches Engagement müssen sich ergänzen.
DKM | Sie persönlich haben ja auch einen internationalen Hintergrund, Herr Beeko. Verbindet Sie das besonders mit Amnesty?
MNB | Durch die Familie und Kontakte meines Vaters, der aus Ghana stammt, das 1957 unabhängig wurde, als er 24 war, habe ich sicher familiär bedingt einen Blick darauf, ob Menschen selbstbestimmt leben können oder eben nicht. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass ein bestimmter Zustand – beispielsweise die damalige Apartheid in Südafrika – nicht für alle Zeiten gegeben ist, sondern dass Menschen aktiv sein und sich für eine bessere Welt einsetzen können. Das hat mich schon als Jugendlicher bewegt, auch wenn ich mich aufgrund meiner Interessen an Wirtschaft im Allgemeinen und Kommunikation in Organisationen zunächst anders beruflich orientiert habe. Umso befriedigender ist es für mich, nun seit 13 Jahren für Amnesty International meine vielfältigen beruflichen Erfahrungen einzusetzen.
DKM | Künstler brauchen Freiheit, um kreativ zu sein, und können daraus Werke schaffen, die immer wieder motivieren. Yoko Onos und John Lennons Song «Imagine… You may say I’m a dreamer but I’m not the only one…» könnte man als Motto verstehen, sich trotz allem gemeinsam für die Menschenrechte einzusetzen.
MNB | Ja, dieses «Du meinst wohl, ich sei ein Träumer, doch ich bin nicht ganz allein» ist unsere Grundlage – denn es geht immer wieder neu um das Zeichen, dass wir an die Menschenrechte glauben und dies gegenüber allen, die Willkür walten lassen, zeigen. Um bei Imagine zu bleiben: «I hope someday you’ll join us …». Nehmen wir die Menschenrechte persönlich, jede und jeder von uns!