Simin Tander, in Köln aufgewachsen und auch heute wieder in Köln zu Hause, blickt auf eine bitterschöne Kindheit und Jugend zurück – mit dem Vater, in Afghanistan geborener Journalist, der Mutter, engagierter Sonderpädagogin, und mit ihrer kaum zwei Jahre älteren Schwester Mina. Simin Tander erinnert sich «an sehr viel Innigkeit und Lebensbejahung», jäh verschattet durch den frühen Tod des herzkranken Vaters. «Trotz allem besaß meine Mutter ein ungebrochenes Urvertrauen und schuf eine Atmosphäre der Kreativität, in der wir unseren eigenen Weg finden konnten.» Während ihre ältere Schwester eine erfolgreiche Schauspielerin wurde, zählt Simin Tander inzwischen zu den bekanntesten deutschen Jazz-Sängerinnen: www.simintander.com
Ralf Lilienthal | Liebe Sinim Tander, keine Künstlerin und kein Künstler bleibt von den tiefen Erfahrungen der eigenen Kindheit unberührt – in welchen Verwandlungen haben sich die Kinder- und Jugendjahre in Ihrem Singen niedergeschlagen?
Simin Tander | Meiner Stimme wurde mehr als einmal das Etikett «Sehnsucht» angehängt. Und tatsächlich beschreibt das etwas, das sich durch meine ganze Persönlichkeit zieht. Es war immer etwas da, das nicht da war. Zum einen natürlich mein Vater und mein Halb-afghanisch-Sein. Aber auch, anfangs noch ganz unbestimmt, die Möglichkeit, etwas zu sein – wie ein weiter Raum, der auf mich wartete. Das habe ich zuerst beim Singen gespürt. Singen wurde mir eine Art zweites Zuhause, in dem ich mich immer zugleich frei, selbstbestimmt und geschützt gefühlt habe. Und mitten darin, wie eine starke Inspirationsquelle, die Trauer, eine sanfte Dunkelheit, die durch das Singen mit einer tiefen Freude in Berührung kommt.
RL | Wie muss man sich das singende Mädchen Simin vorstellen?
ST | Es war ein Singen ohne jede Einengung und Vorgabe. Laut und Klang haben mich fasziniert, auch alltägliche Geräusche, wie etwa unsere Waschmaschine. Dieses langsame, bis in die Tiefe gehende Glissando habe ich begeistert imitiert. Anfangs habe ich ausschließlich daheim gesungen. Nicht weil ich schüchtern war – ich habe immerhin an unserer Schule die Karnevalsveranstaltungen moderiert –, sondern weil das wirkliche Singen etwas ganz Intimes war, das ich unterbewusst schützen wollte. Ich war wirklich rigoros: Denn obwohl ich an einem Musikgymnasium war, wusste bis zum Abiball niemand in der Schule, dass ich singen kann. Ich war, und bin es immer noch, mit wichtigen Dingen langsam, gründlich – wohl auch verträumt – und brauche meine Zeit.
RL | Heute sind Sie als professionelle Sängerin international unterwegs und leben von Ihrer «veröffentlichten Stimme». Auf welchen Wegen haben Sie aus der reinen Innerlichkeit herausgefunden?
ST | Ich sah mich immer singend auf großen Bühnen und vor Publikum, traute mich aber nicht, Unterricht zu nehmen. Den ersten Anstoß gab meine Schwester Mina, die erkannte, wie wichtig mir das Singen war. «Simin, nimm Gesangsunterricht!», wiederholte sie so lange, bis ich gegen Ende der Schulzeit Stunden bei einer Opernsängerin nahm. Wichtig war auch der studienvorbereitende Kurs an der Offenen Jazz Haus Schule. Ein Jahr, bevor ich schließlich in Arnhem Jazzgesang studiert habe, habe ich dort zum ersten Mal in einer Band und durch ein Mikrofon gesungen!
RL | Warum haben Sie sich fürs eher beschauliche niederländische Arnhem entschieden?
ST | Unter anderem, weil man dort stilistisch nicht so festgelegt wurde. Ich liebe Jazz wegen der Freiheit beim Improvisieren – mit und ohne Worte. Gesanglich beeinflusst wurde ich von Jazzgrößen wie Al Jarreau, später Betty Carter, von Popsängern wie Björk und Sting und immer wieder auch von folkloristischen Stimmen aus aller Welt. Ich habe viel ausprobiert. Mit einem Athener Gitarristen habe ich Griechisch gesungen und mit einem Israeli Hebräisch.
RL | Sie sind nach Abschluss Ihres Studiums noch drei Jahre in den Niederlanden geblieben – wie kam das?
ST | Bei allem Zweifeln und Verträumtsein war ich, wenn es um meine Musik ging, äußerst zielorientiert und fleißig. Deswegen habe ich mich von Arnhem aus in der niederländischen Jazz-Szene umgetan und dort wirklich etwas aufgebaut. Ich war auf diversen Messen, habe Demos verschickt, war immer ganz wach und hatte keine Scheu, viel zu fragen. In den Jahren meines Masterstudiums fand ich schließlich in Jeroen van Vliet, Klavier, Etienne Nillesen, Schlagzeug, und Cord Heineking, Kontrabass, meine Traumbesetzung. Acht wertvolle Jahre, zwei Alben und viele internationale Konzerte lang haben wir zusammen gespielt.
RL | Was bedeutet das gemeinsame Musizieren für Sie?
ST | Für alles Musizieren gilt: Hören, Hören, Hören! Zuerst nach innen, auf den eigenen Klang, die eigenen Schwingungen. Und zugleich auf das, was die anderen im Moment spielen. Es geht immer um die Geschichte, die erzählt wird. Gerade in der Improvisation muss ich darauf hören: Was braucht die Musik, was braucht das musikalische Kollektiv jetzt? Wer tritt zurück, wer nach vorne? Da ist ganz viel wort- und blicklose Kommunikation. Das ist sehr intim und wird noch intimer, wenn der andere sich auch öffnet. Es geht um Hingabe, um Vertrauen, auch wenn man sich, wie bei kurzen Gastauftritten, kaum kennt. Spielt man länger zusammen und entwickelt einen bestimmten Bandsound, geht es darum, sich dennoch immer wieder zu überraschen. Aber egal, ob man das erste Mal oder schon ewig zusammenspielt – die besten Momente sind für mich die, in denen etwas Höheres – ein Eigenleben – durch das Musizieren entsteht. Wenn alles wie von selbst zusammenfließt, jeder den anderen antizipiert und das aktive «Machen» in den Hintergrund rückt.
RL | Sie haben mit den Norwegern Tord Gustavsen und Jarle Vespestad ein viel beachtetes Album eingespielt (What was said) und inzwischen eine Tournee mit weltweit über 100 Konzerten hinter sich. Im Zentrum des Projekts stehen norwegische Kirchenhymnen, deren Texte ins Paschtu, die Sprache Ihres Vaters, übersetzt wurden. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Tord Gustavsen?
ST | Ich kannte Tords Musik seit meiner Zeit in Arnhem, als ich eines seiner frühen Alben rauf und runter gehört habe. Wir hatten gemeinsame Bekannte in der niederländischen Jazzszene, wodurch Tord irgendwann mit einem meiner Alben in Kontakt kam. Ziemlich bald hatte er dann die konkrete Idee, mit mir diese reichen und zugleich einfachen nordischen Kirchenmelodien zu interpretieren, und kontaktierte mich. Er selbst hatte sich eine Zeit lang mit dem Sufismus befasst und eine große Schnittmenge zwischen den beiden Kulturen entdeckt – das Paschtu war für ihn dann die ideale Sprache. Auch für mich war die Konstellation perfekt: ein Musiker mit einer so starken musikalischen Vision, der zugleich unglaublich hingebungsvoll begleitet, eine traditionelle, aber für mich neue Musik, die mir jede Freiheit lässt, meinen eigenen Ausdruck zu finden, und eine Sprache, die eine tiefe Verbindung zu mir hat und mir dennoch fern ist, weil ich sie nicht spreche. Respekt haben vor dem Ursprünglichen und trotzdem Eigenes dazutun – die Arbeit an den Hymnen hat mir wieder einmal gezeigt, dass nicht nur das eigene Schreiben, die eigenen Stücke spannend sind.
RL | Ganz gleich, ob Sie Ihre eigenen Stücke spielen oder die anderer Komponisten und Songschreiber – als Zuhörer hat man jedes Mal das Gefühl großer Innigkeit. Aus welchen Quellen speist sich eine Stimme wie die Ihre?
ST | Das Singen ist eine Art heiliger Ort, der immer da ist. Mich fasziniert es, wenn Musik eine Intensität in sich trägt, in der viel mehr als nur das Offensichtliche mitschwingt. Das suche ich in meinem Gesang immer und immer wieder. Die Nähe, die entsteht, wenn alle Geräusche und noch die feinsten Nuancen der Stimme erklingen. Doch bevor ich all dies bewusst ausdrücken kann, muss ich meine Stimme erst durch und durch kennen und schulen. Das nennt man dann «Technik» oder «Stimmbildung». Daran kann man arbeiten. Daran muss man arbeiten, wenn man sich frei in seiner Stimme bewegen möchte! Es bedeutet manchmal auch «üben, ohne zu singen», den Atem spüren, die Resonanzräume – notfalls mitten in einer voll besetzten U-Bahn.
RL | Erfahrungen, die Sie auch als Gesangsdozentin an den Musikhochschulen in Osnabrück und Köln weitergeben?
ST | Als Lehrerin sehe ich mich als eine Begleiterin, die ihre Erfahrungen weitergibt. Ich versuche zu erkennen, wer da vor mir steht, wo sie oder er gerade ist und hinmöchte. Es geht um das Erkunden der Stimme und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten, um Timing, Improvisation und Songinterpretation. Und darum, einen Zugang zum Innern zu eröffnen – dorthin, wo der Wunsch zu singen geboren wird.
RL | Das Simin Tander Quartett scheint an ein vorläufiges Ziel gekommen zu sein. Welche nächsten Stationen Ihrer musikalischen Lebensreise liegen bereits sichtbar vor Ihnen?
ST | Es braucht Zeit und Raum, bis man durch etwas hindurchgegangen ist. Nach unserem zweiten Album Where Water Travels Home und den neuen Erfahrungen im Trio mit Tord Gustavsen kündigt sich irgendwo in der Tiefe etwas Neues an. Es gibt schon konkrete Ideen, aber vor allem versuche ich wach zu sein, wenn sich das Neue zeigt.