Es gibt Menschen, die durch und durch von Musik erfüllt sind. Die Konzertpianistin Anna Goldsworthy (www.annagoldsworthy.com) gehört zu ihnen. Sie hat ihren Lebensmittelpunkt in Australien, ist zum Zeitpunkt unseres Gesprächs aber in Deutschland, um mit einem renommierten Coach am neuen Programm ihres «Seraphim Trios» (www.seraphimtrio.com) zu arbeiten. Wir treffen uns bei Hannover, um über ihr von mir ins Deutsche übersetztes Buch, «Piano Lessons. Mein Weg in die Musik», zu sprechen.
Dieter Fuchs | Liebe Anna Goldsworthy, in Ihrem Buch Piano Lessons geht es um Musik, über die sie in einer Art und Weise schreiben, wie das sonst nur wenige schaffen. Musik, das Wesen der Musik, ihre metaphysische, vielleicht sogar göttliche Dimension – all das wird bei Ihnen transparent und erfahrbar. Wie kommt es, dass Ihnen das so leicht fällt?
Anna Goldsworthy | Wie schön, dass Sie diesen Eindruck haben, aber leicht war die ganze Sache nicht unbedingt. In meinem Buch beschreibe ich die Erfahrungen, die ich als Kind und Jugendliche mit meiner Klavierlehrerin Eleonora Sivan gemacht habe. Mit neun Jahren kam ich zu ihr, da war sie gerade erst aus der Sowjetunion nach Australien eingewandert. Sie hatte in Sankt Petersburg am damaligen Leningrader Konservatorium eine harte Klavier-Ausbildung absolviert und besaß ein immenses Wissen über Musik, was mich als Kind total überforderte. Erst nach und nach verstand ich, worüber sie eigentlich redete, aber als ich es dann irgendwann verstand und auch immer besser umzusetzen lernte, konnte ich schließlich auch darüber schreiben.
DF | Gleich zu Beginn lassen Sie Ihre Lehrerin ihr «Dogma» und gleichzeitig ihr Lehrprogramm formulieren: «Wir unterrichten Philosophie und Leben und Musik verdaut. Musik gehört dir. Instrument bist du.» Das klingt nicht nur für ein neunjähriges Kind rätselhaft.
AG | Mit neun hatte ich schon drei Jahre Unterricht hinter mir, und für meine «Bewerbung» bei ihr spielte ich Mozarts Sonata Facile in C-Dur. Das war recht erstaunlich für mein Alter, nur fehlten eben, was ich heute weiß – und sie dann auch gleich kritisierte –, die Philosophie und das Leben und dadurch letztendlich die Musik. Ihr Unterricht beschränkte sich aber nicht auf Kritik, sondern bestand vornehmlich in Beschreibungen dessen, was getan werden kann, um einen der Komposition entsprechenden Klang zu erzeugen. Nur war das oft etwas unverständlich. Zum Beispiel war für sie der Schlüssel zu jedem Vortrag eines Musikstücks, dass man vor Beginn des Spiels hört, was man spielen wird. Noch vor dem ersten klingenden Ton oder Anschlag am Klavier hat ihrer Ansicht nach das Stück bereits begonnen.
DF | Man spielt also nicht, was in den Noten steht?
AG | Man spielt, was die Noten einem zeigen oder sagen. Auf dem Blatt stehen weder die Musik noch die Klänge, sondern eben die Noten – nicht mehr und nicht weniger. Durch die Hände des Spielers entsteht dann erst die Musik. Dabei fließen Vorstellungen, inhaltliches Wissen und natürlich auch technisches Können ein – und ergeben das, was man «Interpretation» nennt. Eine Lautstärke-Angabe wie etwa Pianissimo kann nämlich bei unterschiedlichen Komponisten etwas ganz anderes bedeuten. Bei Chopin, der eine fast schon intime Beziehung zum Klavier pflegt, ist es ein einzelner Mensch, der leise ist, bei Beethoven, der voll und ganz in Orchesterklängen lebt und denkt, sind es einhundert Leute, die leise zu sein versuchen!
DF | Wenn Sie das heute so formulieren, sprechen Sie dann in Ihren eigenen Worten oder denen Ihrer Lehrerin?
AG | Eleonora Sivan hat mir Ihre Überzeugungen und Vorstellungen über Jahre referiert und dadurch mein Denken derart geprägt, dass ich es gar nicht mehr sagen kann. Sicher ist aber, dass ich ohne sie keine Pianistin geworden wäre. Für das von ihr Gelernte bin ich unendlich dankbar, und aus der Lehrerin von damals ist längst eine gute Freundin geworden.
DF | Und wie entstand die Idee, das alles aufzuschreiben?
AG | Es mag anmaßend wirken, dass eine Pianistin quasi am Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn gleich eine Art «Erinnerungsbuch» schreibt, deshalb möchte ich betonen, dass es darin weniger um mich als Person oder gar meine «Karriere» geht, als vielmehr um meine wunderbare Lehrerin sowie die von mir als junger Mensch gesuchte und mit ihrer Hilfe dann entdeckte Musik. Die Piano Lessons, also der Klavierunterricht, hatten dabei eher den Charakter von Life Lessons, also Lektionen des Lebens, was mich bis heute mit Dankbarkeit und Demut erfüllt und sich in der Tat weiterzugeben lohnt. Außerdem war in meiner Familie das Schreiben schon immer etwas recht Alltägliches. Mein Vater ist Schriftsteller und hat unter anderem meine Lehrjahre am Klavier fiktionalisiert («Maestro» von Peter Goldsworthy ist auf Deutsch im Verlag Deuticke erschienen). Vielleicht war es deshalb für mich kein allzu großer Schritt, irgendwann selbst als Essayistin tätig zu werden. Was nun Piano Lessons betrifft, muss ich sagen, dass dieses Projekt von Anfang an unter einem guten Stern stand. Meine Hinwendung zur erzählenden Prosa erfolgte auf Anregung des Verlegers von Black Inc. Publishing, der mich fragte, ob ich nicht ein Buch über meine Klavierausbildung schreiben wolle. Dass das Buch in Australien gut aufgenommen wurde, erfüllt mich ebenso mit Dankbarkeit wie sein jetziges Erscheinen auf Deutsch. Eine weitere wunderbare Entwicklung war, dass wir 2017 eine Bühnenadaption in den großen Städten Australiens aufführen konnten. Und obwohl es in meinem Buch ja um innere Prozesse und das quasi «Unsagbare» geht, strebt die australische Regisseurin Ana Kokkinos nun sogar eine Verfilmung an.
DF | Dass wir uns persönlich treffen können, liegt daran, dass Sie mit Ihrem Seraphim Trio in Deutschland sind. Was bringt Sie dazu, von Adelaide in Südaustralien rund um den Erdball zu reisen und gerade hier in Deutschland zu proben?
AG | Grund dafür ist der große Musiker, Dirigent und eben auch Coach Hatto Beyerle, Mitbegründer des Alban Berg Quartetts. Mit ihm arbeiten wir an unserem neuen Programm, das eine Geschichte des Klaviertrios von Joseph Haydn bis in die jüngere Gegenwart umfasst. Beyerle als Mentor hilft uns dabei, das Innere wie auch das Äußere der Kompositionen in ihrer speziellen Gattung zu erkennen und hoffentlich auch umzusetzen. Die Arbeit im Ensemble, das ich übrigens noch als junge Frau zusammen mit zwei Freundinnen – wie ich selbst australischen Musikpreisträgerinnen – gegründet habe, unterscheidet sich grundlegend von der solistischen Herangehensweise, weil eben mehrere Menschen beteiligt sind und es um den Zusammenklang individueller Beiträge und Stimmen geht, die im Idealfall zu etwas Ganzem und Darüberhinausgehendem werden. Ein «Blick» von außen – also von jemandem, der mehr weiß, hört und «sieht» – ist deshalb äußerst hilfreich.
DF | Was ist wichtiger für Sie, die Solotätigkeit oder das Ensemblespiel?
AG | Das kann ich gar nicht sagen. Bei beiden geht es darum, die Musik zu entdecken und entstehen zu lassen – auf unterschiedliche Weise zwar, aber doch mit demselben Ziel.
DF | Haben Sie persönliche Vorlieben als Solistin oder im Ensemble? Welcher Stil, welche Einzelkompositionen liegen Ihnen besonders am Herzen?
AG | Fürs Klaviertrio kann ich sagen, dass die modernen Werke wirklich beeindruckend sind, mein Herz aber doch mehr für die älteren Werke aus der Zeit der Wiener Klassik schlägt. Vielleicht einfach deshalb, weil sie ja schlussendlich den Beginn dieser Musikgattung darstellen. Was die reinen Klavierwerke angeht, sei es tatsächlich solo oder auch mit Orchester, ist die Frage weniger leicht zu beantworten. In meinem Buch behandle ich ja eine ganze Reihe davon, von Mozart, Schubert und Beethoven über Chopin und Liszt bis hin zu Rachmaninow und Khatschaturian – eben weil ich sie im Unterricht nach und nach erlernen und schließlich irgendwie zu «beherrschen» hatte. Hier fällt mir die Entscheidung schwer, denn jede große Komposition hat eben ihre ganz eigene Besonderheit und Größe. Gerade für ein Verständnis der Russen war meine von dort stammende Lehrerin verantwortlich. Und auch die spezielle Faszination für Mozart hat sich von Eleonora Sivan, die ihn und seine Musik für das «Antlitz Gottes» hielt, sicherlich auch auf mich übertragen. Seine Reinheit, Schönheit, ja letztlich Vollkommenheit ist wirklich ehrfurchtgebietend. Ich würde aber dennoch sagen, dass ich mich in der Wiener Klassik insgesamt am wohlsten fühle, wobei mich derzeit speziell Schubert ins Staunen versetzt und interpretatorisch herausfordert.
DF | Haben Sie selbst Vorbilder unter den großen Pianisten?
AG | Auch hier fällt es mir schwer, mich festzulegen. Hervorzuheben wären aber doch vielleicht Martha Argerich, die mich von je her durch ihre unglaubliche Energie beeindruckte, sowie im Zusammenhang mit Mozart Friedrich Gulda, der richtiggehend «Zugang» zu diesem genialen Komponisten zu haben schien und sehr viel «Wahrhaftigkeit» herausarbeiten konnte. Von den Jüngeren fällt mir Khatia Buniatishvili ein, die ein besonderes Händchen für Chopin hat und mit der ich im Rahmen eines Festivals auch schon einmal gemeinsam aufgetreten bin. Und was der Kanadier Marc-André Hamelin macht – bei seinen Mozart-Interpretationen oder auch anderswo –, grenzt für mich teilweise an Zauberei. Bei allem fast schon übermenschlichen technischen Können hier und da hört man bei allen genau das, was mich am meisten interessiert: Die stetige Suche nach dem «Echten», dem «Richtigen».