Sophie Hunger im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Sehnsucht – ein Energielieferant

Nr 228 | Dezember 2018

In der dunklen Jahreszeit erwacht sie – unsere Sehnsucht nach Helligkeit, nach Wärme, nach Nähe. Für die in der Schweiz gebürtige Musikerin Sophie Hunger, die textet und komponiert, ist Sehnsucht ein wesentlicher Energielieferant. Denn wie geht es einem, wenn alle Träume wahr geworden sind, «What are you gonna do when your dreams have all come true» (aus dem Song Tricks auf ihrem neuesten Album «Molecules»)? Das Glück auf Dauer stellt sich wohl nicht ein; die Sehnsucht in uns scheint mehr als unsere Träume von einem schönen Haus, dem Erfolg im Beruf, der heilen Familie. Vielleicht ist da etwas in uns, das erst lebendig wird, wenn wir durch Ereignisse oder Krisen darauf gestoßen werden – nicht fassbar wie Moleküle? Sophie Hunger geht dem auch in ihrer Musik nach. www.sophiehunger.com

Doris Kleinau-Metzler | Liebe Sophie Hunger, Sie gehen mit Ihrem neuen Album, mit elektronischen Klängen, über das Singer-Song­writer-Bild hinaus, Ihre Texte sind engagiert und persönlich, die Musik ganz aus unserer Zeit. Aber wie fing dieser Weg für Sie an?
Sophie Hunger | Aus beruflichen Gründen sind unsere Eltern viel umgezogen, auch in andere Länder. Es dauerte, bis man sich im neuen Umfeld zu Hause fühlte – und dann musste man meist schon wieder gehen. Dadurch habe ich in meiner Kindheit wahrscheinlich viel Zeit mit mir verbracht. Ich war auch nicht so überwacht. Meine Strategie, damit umzugehen, war wohl, Sachen für mich zu erfinden, mich so in andere Welten hineinzuträumen, auch mit Musik. Ich habe mir einen Geheimraum geschaffen, in dem alle möglichen Dinge sein konnten. Und dabei ist auch eine Art Sehnsucht gewachsen.
Ich komme aus einem kleinen Land, der Schweiz, und wenn ich Bands gesehen habe, die irgendwo aus Europa oder den USA kamen, dann wollte ich auch gern so sein, so leben. Sehnsucht ist ja ein starker Energielieferant.

DKM | Wie kamen Sie zur Musik als Beruf?
SH | Ich habe schon früh für mich Lieder geschrieben, indem ich mir einfach auf dem Klavier gemerkt habe, wo man hindrücken muss, damit die Melodie entsteht, war also echt früh eine klassische Singer-Songwriterin (sie lacht). Auf leeren Kassetten konnte man aufnehmen, was man fabrizierte. Ich erinnere mich noch an ein Lied, da war ich so sieben oder acht Jahre alt, «Let’s walk through the sand hand in hand». Alleroffensichtlichste Reime, aber es hatte etwas Romantisches für mich. In der Schule war ich aber im Musikunterricht, wo man eine Etüde üben und dann vorspielen musste, nie gut. Doch ein kleines Lied selbst zu schreiben, das war schon früh etwas, was man mir nicht erklären musste. So habe ich auch nicht Musik, sondern Literaturwissenschaften in Bern studiert und meinen Bachelor-Abschluss über Richard Yates gemacht, einen amerikanischen Schriftsteller, obwohl ich zu der Zeit mit meiner Musik schon sehr viel auf Tournee war, auch in den USA, und ich oft einen Riesenaufwand betreiben musste, um das alles zeitlich hinzubekommen. Aber es war für mich damals wichtig, das Studium abzuschließen, einerseits wohl, weil ich aus der Züricher protestantischen Kultur komme, wo gilt – man macht es fertig! Das habe ich mir damals nicht eingestanden. Und ich wollte es mir auch selbst beweisen, beides zu schaffen, Musik und Studienabschluss. Bis heute ist Literatur eines meiner liebsten «Dinge».

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

DKM | In einem Interview sprachen Sie von Angst als dem Gegenteil von Freiheit. Sich Angst und Sorgen machen um die Zukunft, ist uns allen vertraut. Was hat das mit der Freiheit zu tun, die uns oft selbstverständlich ist?
SH | Den Satz finde ich immer noch richtig: Angst ist das Gegenteil von Freiheit, denn eine Gesellschaft, die sich von Angst leiten lässt, ist eine beengte, eine einengende Gesellschaft. Denn man steht aus dieser Angst heraus wie mit dem Rücken zur Wand, schläft schlecht, kann keine guten Entscheidungen unter diesem Druck treffen. Es gibt vor allem keinen Platz mehr für Differenzierungen unter der Angst, sondern nur ein Schwarz-Weiß. In einer Angstsituation kann man eigentlich nur flüchten – oder angreifen.

DKM | Was stattdessen tun mit der Angst? Wie die Freiheit nutzen?
SH | Zunächst kann man sich fragen: Warum habe ich Angst? Dieser Frage nachzugehen bringt ja nicht sofort ein klares Ergebnis und ist in einem Tag erledigt – wie wenn man auf Instagram oder Facebook mal schnell durch ein paar Klicks weiterkommt. Das ist viel komplizierter. Und nicht so, dass es dafür eindeutig «Schuldige» gibt. Freiheit bedeutet für mich, vertrauen zu können. Es ist eine Form der Freiheit, wenn man sagen kann: Ich muss nicht alles wissen, denn es gibt noch andere Menschen, denen ich vertrauen kann, die wissen vielleicht das, was mir fehlt. Und zusammen kommen wir aus diesem Gewitter wieder heraus.

DKM | Hat man selbst Anteil daran, dass man Vertrauen hat?
SH | Ja, ganz viel, würde ich sagen. Als ich als Musikerin beruflich angefangen habe, war ich von den vielen Aufgaben, die plötzlich neben der Musik da waren, überfordert: Ich hatte das Gefühl, ich müsse auf alles eine Antwort haben – denn da waren nun Bandmitglieder, ein Management, Interviews. Ich habe einen hohen Anspruch an mich gestellt und versucht, möglichst viel zu kontrollieren. Aber eigentlich kam dies aus Unsicherheit, aus fehlender Integrität heraus, denn ich war doch ziemlich inkompetent oder eben eine Anfängerin in vielem. Jetzt merke ich, wie hilfreich es ist, mit Vertrauen zu arbeiten – wenn sich jeder entwickeln und ausdrücken kann, profitiere ich davon. Ein autoritärer Führungsstil killt die Kreativität. Wenn ich den Musikern jede Note befehle, verpasse ich das einzig Wesentliche, was sie mir geben können, ihren individuellen Ton. Oder auch: Für mein Album hat ein Grafiker das Cover entworfen. Früher hätte ich jeden Tag angerufen, auf Skizzen und Vorentwürfen beharrt und das dann bewertet, obwohl ich keine Grafikerin bin. Jetzt wähle ich anfangs jemanden aus, dessen Arbeit ich bewundere, sage dann ein paar Assoziationen zum Titel Molecules und versuche, ab dann im Grunde möglichst nicht zu stören. Nach zwei Monaten sah ich dann das Ergebnis. Es war toll.

DKM | Sie wehren sich dagegen, eine Ikone zu sein. Andere wollen gerne Star sein …
SH | Wenn man in einem Beruf arbeitet, der eng mit den Medien zusammenhängt, sieht man schnell, wie oberflächlich das alles ist. In einem Jahr kommt eine Band hoch, im nächsten kennt sie keiner mehr. Es ist extrem schnelllebig und gnadenlos. Inzwischen ist der ganze kreative Bereich, der früher doch auch eine Art Gegenwelt zum Alltag war, erfasst von den Mechanismen des Kapitalismus. Ein Beispiel: Als ich ein Teenie war, war es für mich cool, das Gefühl zu haben, außerhalb des Establishments zu stehen. Irgendwann fing es an, dass Bands sich schon früh mit Marken identifizieren und völlig in diesen markt­wirtschaftlichen Prinzipien aufgehen, gar nicht mehr versuchen, außerhalb zu stehen. Es ist etwas verloren gegangen … Aber die Sehnsucht ist vielleicht noch da. Ich stelle jetzt ein steile These auf: Die nächste große Jugendbewegung wird sein, dass viele ihre Handys wegwerfen, um nicht mehr auf­findbar zu sein für Eltern, Leute, Infos. Eine analoge Jugendbewegung als Gegenreaktion – vielleicht in zehn Jahren – als eine Auf­lehnung, denn wir befinden uns an einem Punkt maximaler Transparenz. In dieser Überwachung von Eltern, Staat, Algorithmen drücken sich eben auch Ängste aus – und das führt zu einer unfreien Gesellschaft.

DKM | Sie sprechen in There is still pain left davon, dass Schmerz bleibt, und fragen why, warum. Eine Frage spricht auch aus dem Song Oh Lord mit seinem herzschlagähn­lichen Rhythmus. Eine Einsicht ist – wenn dieser alte Gott tot ist, ist auch der Teufel tot.
SH | Ja, aber im nächsten Satz wird die daraus folgende Kränkung angesprochen – dass nun niemand mehr meine Seele möchte. Dieses Album ist mein persönlichstes und spiegelt Erfahrungen wider. Als junger Mensch war ich eher gläubig, wurde mit fünfzehn auch konfirmiert. Dann kamen die Zweifel auf – bis dahin, dass man für sich zu erkennen glaubt, dass das nicht real ist, dass man nicht mehr an die traditionelle Vorstellung, an den lieben Gott im Himmel, der uns erschaffen hat und über uns wacht, glaubt. Das finde ich heute unplausibel. Ich glaube, jeder sucht an einem anderen Ort nach Antworten, nach dem Sinn oder der Frage, was am Anfang des Universums war. Ich habe mich in den letzten Jahren immer wieder mit wissenschaftlichen Theorien auseinandergesetzt, denen im Teilchenbeschleuniger CERN in der Schweiz nachgegangen wird. Das ist im Moment meine Fährte.
Aber trotzdem gibt es Momente, in denen man diese Geborgenheit, die einem eine Religion oder ein Glauben gibt, vermissen kann. Es gibt zum Beispiel eine kleine Kirche im Engadin, wenn ich an der vorbeikomme und in sie hineingehe, da ist nicht alles weg; das merke ich einfach. Oder wenn etwas Schlimmes passiert, da ist man schnell bei einem Stoßgebet. Darüber wollte ich ein Lied schreiben, auch aus der Idee heraus, die ich ab und an andernorts erlebt habe: Ich ging eine Zeit lang öfter in einen Club in Berlin, «Berghain». Manchmal gibt es dann sonntag­morgens so eine Stimmung, die mich an die Kirche erinnert, obwohl es ganz anders ist – es ist eine Gemeinschaft, es herrscht großes Vertrauen, großer Respekt, viel Liebe ist da. Das hat etwas von einer religiösen Situation, die keine Konfession hat, aber ein Gefühl.