Plätze sind Inbegriff und universelles Merkmal des Städtischen, von der Bebauung ausgesparter und für jeden öffentlich verfügbarer Raum. Die «guten Stuben» der Stadt, als die der «Vater der Stadtbaukunst», der österreichische Architekt, Städtebau- und Kulturtheoretiker Camillo Sitte (1843 – 1903), sie einst verstand, sind heute jedoch vielfach als Orte der Bürgerinnen und Bürger verloren gegangen. Plätze haben oft jene Qualität eingebüßt, die das Zusammenleben in der Anonymität der Städte so dringend bräuchte: Orte der Begegnung, der Kommunikation und des öffentlichen Lebens zu sein.
Aber es gibt auch Gegenbewegungen! Am «Österreichischen Platz» in Stuttgart beispielsweise hat «Stadtlücken e.V.» aus dem einstigen «Problemplatz» unter der viel befahrenen Paulinenbrücke einen Ort der Vielfalt, vor allem aber wieder einen Ort für die dort lebenden Menschen gemacht. Zuvor an eine Parkplatzfirma verpachtet, hat die Stadt nach intensiven und konstruktiven Diskussionen diesen Raum seit Sommer 2018 für zwei Jahre als Experimentierfeld geöffnet.
Beim Treffen mit drei der inzwischen 24 «Stadtlücken», den Architektinnen Sarah Ann Sutter und Carolin Lahode sowie dem Schreiner und Architekten Sebastian Klawiter (oben im Foto von links nach rechts zu sehen), ist die Begeisterung für diesen Ort, an dem die Bürgerinnen und Bürger Bereiche ihres Stadtlebens nun selbst bestimmen können, auch nach einem ereignisreichen und turbulenten ersten Halbjahr sogleich spürbar. Ihre Begeisterung für die Sache ist ansteckend und in der entspannten Atmosphäre wechselt man rasch vom Sie zum Du.
Maria A. Kafitz | Das Jahr 2019 liegt mit all seinen Möglichkeiten noch vor uns. Wir sollten dennoch kurz aufs Jahr 2018 zurückblicken, das für die Stadtlücken ja ein sehr besonderes war. Was hat es mit euch gemacht – und ihr in ihm?
Sebastian Klawiter | In erster Linie hat es uns positiv überrascht, und zwar in dem Sinne, was man alles bewirken kann, wenn man gemeinsam an einem Projekt arbeitet, gemeinsam ein Ziel hat und auch das nötige Vertrauen von bestimmten Leuten bekommt, um solch ein Projekt, solch eine Aufgabe umzusetzen.
Sarah Ann Sutter | Und es hat vor allem viele neue Bekanntschaften und Begegnungen gebracht. In der ganzen Vorbereitungszeit der Aktion waren wir viel unter uns, aber nachdem wir endlich auf den Platz gegangen sind und die ersten Dinge ausprobiert haben, sind ganz viele Leute auf uns zugekommen und wollten auch mitmachen. Es ist schön zu merken, dass es manchmal reicht, kleine Dinge anzustoßen, und dann ganz viel von allein passiert.
Carolin Lahode | Ich würde sogar sagen, ich weiß schon gar nicht mehr, was wir davor eigentlich gemacht haben. Natürlich gab es auch andere Aktionen, die waren aber eher kleiner und zeitlich begrenzt. Der Österreichische Platz, unser aktuelles Projekt, beansprucht seit Beginn unsere ganze Kraft und volle Aufmerksamkeit. Ich glaube, es ist gut und wichtig, wenn wir uns nach dem Anfangswirbel jetzt auch wieder die Zeit zum Reflektieren nehmen und uns fragen: Was können wir 2019 anders angehen und womit sollten wir unbedingt weitermachen?
MAK | Ihr habt ja – für die sogenannte «Autostadt Stuttgart» fast nicht denkbar – einen Parkplatz zu einem Kultur- und Begegnungsort für ganz unterschiedliche Aktivitäten werden lassen. Warum gerade dort?
CL | Die Philosophie der Stadtlücken ist ja, vor allem in einer dicht besiedelten Stadt wie Stuttgart, in der es nicht mehr viele Spielräume gibt, Lücken im Stadtsystem zu finden, sie sichtbar zu machen, ins Bewusstsein zu rücken und den falsch oder nicht genutzten Raum für Menschen sowie ihre eigentlichen Bedürfnisse zugänglich und gemeinsam nutzbar zu machen. «Lücken» sind für uns Baulücken, Zeitlücken, soziale und rechtliche Lücken, Wissenslücken …
SK | … der Österreichische Platz war zwar keine Wissenslücke, aber als Projekt kam er zu uns – nicht wir zu ihm. Denn als wir vor rund zwei Jahren damit angefangen haben, im von uns initiierten Diskussionsformat «Einmal im Monat. Wem gehört die Stadt?» mit anderen Interessierten regelmäßig über Themen rund ums Leben in der Stadt in einen Austausch zu kommen, kam an einem Abend jener Österreichische Platz zur Sprache. So hat sich dieser Ort als mögliche «Spielfläche» überhaupt erst konkretisiert. Und nach vielen Diskussionen untereinander und sehr vielen mit den Verantwortlichen der Stadtverwaltung gab es dann tatsächlich diesen magischen Moment, dass wir mit Eimer, Besen und Schaufel den Platz zuerst putzend, danach gestaltend «zurückerobert» haben.
MAK | Und was wird dort nun realisiert?
SK | Unsere Idee ist es, an diesem Platz gar nicht den Platz an sich zu entwerfen, sondern ihn gemeinsam mit den Bürgern und Bewohnern der Stadt zu beleben. Wir haben Ideenzettel entwickelt, die wir vor Ort auslegen, und gehen mit Veranstaltungen ganz gezielt auf die Bürger der Stadt zu. Wenn diese selbst eine Idee haben, können sie sie vorschlagen, und wir beraten intensiv und entscheiden ganz basisdemokratisch, ob sie realisiert werden könnte. Nehmen wir was Konkretes, beispielsweise die dort installierte Tischtennisplatte: Eine junge Initiative kam auf uns zu, die gerne eine gute und zudem überdachte Tischtennisplatte haben wollte. Wir haben schließlich eine mit ihnen zusammen ausgesucht und alles Notwendige veranlasst, aber um den Rest haben sich die Jungs selbst gekümmert. Und sie kümmern sich auch heute noch darum, dass sie nicht nur bespielt, sondern auch sauber gehalten wird.
SAS | Es freut uns mit anzusehen, dass dort nun viele Menschen zusammenkommen, die sich vorher nicht kannten, weil sie Tischtennis spielen wollen. Dabei fangen sie automatisch an, sich mit dem Ort an sich auseinanderzusetzen – und kommen daher zu den anderen Veranstaltungen, die sie vorher vielleicht gar nicht interessiert hätten. Wir verfolgen hier eigentlich mehrere Gedanken parallel: Zum einen gibt es die festeren Bestandteile, die über längere Zeit da sind, wie die Tischtennisplatte, zum anderen passiert aber auch ganz viel, was nur temporär ist – für einen Tag oder für eine Woche. Wir hatten beispielsweise eine «Brettljause», wo man mit Freunden plaudern und neue Bekanntschaften beim gemeinsamen Essen schließen konnte. Es gab eine Themenwoche «Wohnen in der Stadt» samt öffentlichen Debatten mit verschiedenen Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Wissenschaft. Konzerte wurden gegeben, Kinofilme geschaut. Es wurde gesungen, getanzt, gekocht, gewerkelt und viel diskutiert.
SK | Der Grundgedanke ist ja, dass wir als Gestalter nicht sagen: «Wir wissen, was dieser Platz braucht!», sondern die Ideen, die wir von den Bürgern bekommen und mit ihnen umsetzen, sollen eigentlich dabei helfen herauszufinden: Was braucht dieser Platz tatsächlich? Welche Atmosphäre fordert der Raum? Welche Geräuschkulisse verträgt die Umgebung? Und weiter gedacht: Wie sieht das alles stadträumlich und -planerisch eigentlich aus? Dadurch, dass es solche Räume viel zu selten gibt und wir sie daher kaum erlebt haben, ist es ein bisschen unsere Vision, mögliche neue Bilder zu produzieren, um herauszufinden, wie solche Plätze, Räume, Orte in Zukunft aussehen könnten.
MAK | Euer Slogan stellt ja zugleich eine eurer Grundfragen: «Wem gehört die Stadt?» Und – wem gehört sie?
CL | Den Bürgerinnen und Bürgern natürlich, den Menschen, die in dieser Stadt leben. Das sollte sie zumindest.
MAK | Und wie sieht die Wirklichkeit aus, wenn ihr genauer hinschaut?
SAS | Nun ja, das war ja mit ein Grund, warum sich der Verein Stadtlücken gegründet hat, weil es eben nicht viele Räume gibt, die man als öffentlichen Raum in unserem Verständnis bezeichnen würde. Es gibt zwar sehr viele Räume, in denen man sich aufhalten kann, wenn man etwas konsumiert, wenn man in ein Café geht usw. Aber diese komplett öffentlichen Räume, wo man sich «nur» treffen kann, ohne dafür bezahlen zu müssen, die sind rar, vor allem in der Innenstadt. Deswegen ist es unser Anliegen, Lücken zu suchen, wo solche Dinge noch möglich sind, wo sich Menschen treffen und miteinander aushandeln können, was dort passieren soll.
SK | Die ganzen Shopping-Malls oder Einkaufsstraßen, die es im Überfluss in Städten gibt, in denen man sich nur aufhält, um zu konsumieren, schließen natürlich auch eine ganz große Gruppe an Menschen aus, die sich das nicht leisten kann – oder es nicht will. Unserer Meinung nach sind aber Orte unglaublich wichtig, an denen man sich frei begegnen kann.
MAK | Ihr habt für diesen Ort auch ganz bewusst keine Verbote formuliert, sondern «Spielräume» gesetzt. Was ist möglich, was unmöglich?
CL | Wir erleben es ja selbst oft genug, dass man mit Verboten konfrontiert wird, die man nicht wirklich versteht, dass vielem erst mal mit Misstrauen begegnet wird und deswegen sicherheitshalber schon mal Verbote aufgestellt werden, noch ehe überhaupt etwas passieren kann. Wir sind uns dessen bewusst und versuchen daher, diese Einstellung aktiv umzukehren: Erst mal Vertrauen schenken und Dinge wagen – wir haben ja schließlich ein freies Experimentierfeld zu bieten. Anschließend beginnt aber natürlich auch die gemeinsame Reflexion über das Versuchte. Unsere «Spielräume» sind dabei recht allgemein und auch allgemein verständlich formuliert: Es gibt keinen Konsumzwang, man muss nicht müssen, es soll sich jeder dort aufhalten können, und zwar zu jeder Zeit. Der Ort soll natürlich frei von Diskriminierung, Sexismus, Nationalismus und Rassismus sein. Eben ein großer Raum, der vieles ermöglicht.
MAK | Was könnt ihr anderen als Impuls mitgeben, um einen solchen Ermöglichungsraum in der eigenen Stadt oder auch dem Dorf zu schaffen?
CL | Ich glaube, eine entscheidende Sache ist, dass man sich Gleichgesinnte sucht, dass man Leute findet, die Lust haben mitzumachen – und dann einfach mal anfängt, und zwar niederschwellig, also mit etwas ganz Einfachem. Man muss nicht immer gleich mit Demobannern vors Rathaus ziehen und alles sofort anders wollen. Ich denke – und das ist wohl auch eines unserer «Erfolgsrezepte» –, man sollte experimentierfreudig und spielerisch an solche Dinge herangehen. Wir haben eher Fragen gestellt statt Forderungen formuliert. Und vor allem haben wir die Leute vor Ort mit einbezogen.
SK | Ja! Das Miteinander ist extrem wichtig und das «Einfach-mal-Machen». Das kriegt man überall hin – in jeder Stadt und jedem Dorf. Einfach mal machen und schauen, was andere tun … Einfach mal eine «g?spinnerte Idee» umsetzen und abwarten, was passiert. Im Grunde heißt das einfach: als Erwachsene in der Stadt und mit ihren Möglichkeiten spielen wie einst als Kinder.