Nana Göbel im Gespräch mit Jean-Claude Lin

Eine Schule für die Welt

Nr 236 | August 2019

In Berlin scheint die ganze Welt zuhause zu sein. Wer hier durch die Straßen geht, um zum verabredeten Interview ins Büro von Nana Göbel zu kommen, der läuft einmal quer durch die Vielfalt der Kulturen. Für Nana Göbel, die nach ihrem Studium der klassischen Archäologie, Geschichte und Ägyptologie in Tübingen, München und Bonn als Mitarbeiterin in der Jugendsektion am Goetheanum in Dornach tätig war, dann in der GLS Gemeinschaftsbank und in der Gemeinnützigen Treuhandstelle in Bochum im Vorstand arbeitete, ist Berlin genau der passende Ort, denn auch sie ist in der ganzen Welt zuhause. Vor allem aber ist sie seit vielen Jahren für die «Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners» (www.freunde-waldorf.de) unterwegs, ist eine detailreiche Kennerin der weltweiten Waldorfschulbewegung und sorgt mit ihrem engagierten Team dafür, dass auch in armen Regionen der Erde Kinder eine Chance zum Lernen in Freiheit bekommen.

Jean-Claude Lin | Liebe Nana Göbel, Sie sind in zahlreichen Ländern der Welt für die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners unterwegs, um freie Schulen finanziell zu unterstützen, und das seit vielen Jahren. Wie hat sich die Lage der Kinder in der Welt in dieser Zeit geändert?
Nana Göbel | Das ist keine ganz einfache Frage, weil die Frage nach «der Lage der Kinder in der Welt» mir etwas zu groß für eine Antwort ist. Ich kann aber durchaus sagen: Es gibt Länder, in denen Bildung und Erziehung leider keine große Rolle spielen, weshalb zum Beispiel Kinder in ländlichen Gegenden nicht gefördert werden. Für Kinder in solchen Regionen, zum Beispiel im Hochland von Kenia oder an der Grenze zu Uganda, ist die Lage nach wie vor katastrophal. Das gilt auch fürs länd­liche Indien. Aber auch die Schulform in den Städten – gerade in Kenia und Indien – hat sich leider nicht geändert. Noch immer dominiert die koloniale britische Schule, die im Wesentlichen aus Auswendiglernen besteht. Das gilt übrigens auch für die französischen Kolonialgebiete. In den wirtschaftlich prosperierenden Ländern, also zum Beispiel den sogenannten «Tiger States»,* gibt es dagegen Zugang zur Bildung für die Majorität der Kinder, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, und es gibt Bemühungen, einen anderen Zugang zur Schule zu finden. In einem Land wie Singapur oder Korea bestand natürlich Bildung auch lange nur aus dem Auswendig­lernen von Inhalten. Heute – auch auf Druck der großen Unternehmen – ist klar, dass man durch bloßes Reproduzieren von Lern­inhalten nicht die Fähigkeit erwirbt, Probleme zu lösen. Insofern bemühen sich solche höherindustrialisierten Staaten, andere Bildungsformen zu finden. Das zeigt sich dann auch in den Pisa-Resultaten. Die Lage der Kinder und ihr Zugang zu Bildung ist also nach wie vor äußerst verschieden auf dieser Erde.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

JCL | Weltweit sind Waldorfschulen zu finden – besonders in Asien haben sie großen Zulauf. Wie kommen Menschen gerade dort, aber auch in Afrika oder Südamerika darauf, eine Schule zu gründen, deren Pädagogik 1919, also vor hundert Jahren, in Deutschland für Arbeiterkinder ins Leben gerufen wurde? Was ist das Besondere, was schätzen sie an dieser Pädagogik?
NG | Es gibt heute in etwa 80 Ländern, wenn man nach offiziellen Listen geht – aber meiner Kenntnis nach in fast 100 Ländern – Waldorfinitiativen. Das sind natürlich keine entlegenen Länder, sondern das sind Länder mit einem Potenzial an bildungsaffinen Menschen. Die Waldorf­bewegung – und das ist ja so spannend – hat sich relativ schnell ausgebreitet. Schon 1928, nicht einmal 10 Jahre nach der Gründung der ersten Schule, gab es die erste Waldorfschule außerhalb von Europa. Das ist doch schnell! Schon 20 Jahre nach der Gründung, also 1939, gibt es die erste Waldorfinitiative in Lateinamerika und in Indonesien. Das bedeutet: Der Impuls der Waldorfpädagogik, nämlich eine menschenwürdige, altersgemäße, individualisierende Bildung zu verankern, findet Freunde von Anfang an. Wenn man jetzt für die Zeit nach 1989 schaut, und besonders ins 21. Jahrhundert, dann ist das quantitative Wachstum enorm. Daran kann man auch merken, dass die Sorgen der Eltern gigantisch werden.

JCL | Welche Art von Sorgen meinen Sie?
NG | Schulgründungen entstehen entweder durch engagierte Lehrer oder durch Eltern mit großen Sorgen. Die Sorgen be­treffen vor allem die «Qualität» der staatlichen Schule. Das ist übrigens auch in vielen europäischen Ländern so. Sie bemerken, dass ihre Kinder, vor allem in den unteren Klassen, wie ein­trocknen, dass sie keine Lust auf Lernen haben, obwohl jedes Kind eigentlich lernen will, und dass sie immer blasser und müder werden. Und sie merken: Diese Art von Bildung fördert mein Kind nicht. Das ist die eine Sorgen-Seite, und zwar von Leuten, die Zugang zu staatlichen Schulen hätten. Die andere Seite ist jene – und das ist zum Beispiel in den USA häufig so ?, dass Eltern feststellen, dass ihre Kinder mit Informationen zugemüllt werden, die sie durch allerhand technische Geräte bekommen, aber leiblich nicht gesund sind. Das heißt, die Gesundheitskräfte nehmen ab, und zudem lernen die über­forderten Kinder nirgends, all die Informationen zu sortieren oder unterscheidungsfähig, urteilsfähig zu werden. Deshalb würde ich sagen: Es ist die Sorge um die Gesundheit der Kinder, es ist die Sorge um die Lernlust der Kinder, um den Erhalt von Kindheit, die dazu führt, eine Alternative zu suchen – oder eben selbst zu schaffen.

JCL | Auch in China breitet sich die Waldorfpädagogik in einem sehr hohen Tempo aus. Wie ist das möglich – in einem Land, das nicht gerade für die Stärkung und Förderung der Freiheit des Individuums bekannt ist, eines der zentralen Anliegen der Waldorfpädagogik?
NG | Erstens ist die individuelle Entwicklung auch Teil der konfuzianischen Weltanschauung. Zweitens ist die heutige chinesische Regierung zwar nach wie vor eine kommunistische Regierung, nimmt ihr kulturelles Erbe aber ernster, als es beispielsweise zu Zeiten von Mao der Fall war. Gleichzeitig – und das gilt für Gesamtasien – geht es niemals nur um individuelle Entwicklung, sondern es geht immer auch um Gemeinschafts­fähigkeit, weil es eine asiatische Grundfrage ist, wie der Einzelne dem Gesamten dienen kann. Und diese Frage stellt sich natürlich in China heute ganz genauso. Das heißt, eine Waldorfpädagogik in China wird immer fragen: Wie kann ich einerseits den Einzelnen fördern und andererseits dadurch die Gemeinschaft? Die Nachfrage, insbesondere bei gut ausgebildeten Eltern, die oft auch im Ausland studiert haben, ist groß. Das hängt mit einer anderen Sorge als den zuvor erwähnten zusammen, die auch die chinesische Regierung bewegt, nämlich der Frage, wie eine kreativere Bildung chinaweit etabliert werden kann. Meiner Einschätzung nach ist die Regierung so lange an der Waldorfpädagogik interessiert, wie sie beobachten kann, ob darin päda­gogische Elemente liegen, die auch sinnvoll ins staatliche Schulwesen übernommen werden können, weil sie zu einem größeren Kompetenzspektrum führen als die rein akademische Bildung. Denn es ist eines der großen Probleme des chinesischen Schulsystems: Es setzt zu sehr nur auf kognitive Fähigkeiten und vergisst dabei den mora­lischen, den fühlenden, den handwerklich und künstlerisch begabten Menschen.

JCL | Wenn die Freunde der Erziehungskunst die Anfrage bekommen, eine Initiative finanziell oder anderweitig zu unter­stützen, worauf achten Sie, um zu einem Urteil zu kommen?
NG | Das ist eine gute Frage! Ich schaue immer zuerst: Wie ist das Verhältnis zwischen Kindern und Lehrern? Ist das Verhältnis so, dass dadurch Lernen möglich ist? Der Bildungsforschung ist ja inzwischen völlig klar, dass die Be­ziehung zwischen Kind und Lehrer die Brücke des Lernens ist und ohne diese Beziehung Lernen gar nicht stattfinden kann. Dann betrachte ich auch nüchtern, ob es sich wirklich um «Schule» handelt oder um, wie ich es nenne, «Entertainment». Ist das Lernen methodisch erarbeitet, wird geübt usw.? Das ist ein Gesichtspunkt. Der zweite Gesichtspunkt ist: Wie arbeiten die beteiligten Menschen zusammen? Da es sich ja um freie Schulen handelt, funktionieren sie nur gemeinsam. Wie arbeiten Lehrer und Eltern zusammen? Die sind ja die Hauptakteure. Wenn das freudig funktioniert und mit einer gemeinsamen Vision wie in vielen, vielen Schulen Lateinamerikas, dann ist das ein positives Signal. Dann schaue ich mir an: Welche Kompetenzen gibt es in den Lehrer-Eltern-Gemeinschaften? Sind da Anwälte, Architekten, Bauingenieure etc. zu Gange, die auch das Äußere dieser Schule bewältigt kriegen? Welche Beziehung haben die Lehrer zum Staat? Arbeiten sie mit den Schulbehörden zusammen? Sind sie ge­sprächs­fähig? Kriegen sie eine Geneh­migung für ihre Schule? Wenn das alles prima ist und wenn ich dann die Kinder sehe und merke: Wunderbar, die brauchen eine gute Schule, dann werde ich aktiv. Wenn das nicht der Fall ist, tue ich aber auch etwas, dann ist es keine Finanzierung, die die Folge ist, sondern dann ist es die Frage: Wie kann ich den Leuten helfen, mehr Kompetenzen aus­zubilden? Vielleicht bedarf es eines pädagogischen Mentors, der Fortbildungs- ­möglichkeiten eröffnet, oder ich suche einen erfahrenen Geschäftsführer, der ihnen beibringt, wie man Strukturen schafft. Ich helfe also auf jeden Fall – aber nicht immer mit Geld.

JCL | In Ihrem großen Werk Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit** ist ein durchgehendes Thema die Lehrerbildung. Das ist auch ein großes und drängendes Thema in Deutschland: Wo kommen die Lehrer her, die die entsprechenden pädagogischen Kenntnisse und Fähigkeiten haben? Welche besonderen Ansätze gibt es da im außereuropäischen Raum?
NG | Ich sehe vor allem im europäischen Raum einen wunderbaren Ansatz, und zwar in Finnland. Die Finnen haben vor einer geraumen Zeit beschlossen, dass der Lehrerberuf solch ein wichtiger Beruf ist, dass Lehrer genauso gut bezahlt werden müssen wie Juristen und Ärzte. Und sie haben beschlossen, nur die besten Studenten ins Pädagogikstudium zuzulassen. Das heißt, wenn man in Finnland Lehrer werden will, ist das nicht wie oftmals hier, weil einem nichts anderes einfällt, sondern weil der Lehrerberuf ein so geschätzter Beruf ist, dass er gesellschaftlich gleichwertig angesehen wird wie andere wunderbare Berufe, die die Leute gerne ergreifen. Für uns heißt das in erster Linie: Wir müssen an der gesellschaftlichen Reputation der Lehrer etwas tun – und an deren finanzieller Ausstattung und an der Ausrichtung des Studiums. All das würde natürlich auch unserer Republik und dem Rest Europas gut zu Gesicht stehen.

JCL | Haben Sie noch einen Wunsch, der von Europa aus in die Welt gehen könnte, um die Lage der Kinder zu verbessern?
NG | Von Europa – und nur von Europa – könnte ausgehen, dass man Bildung nicht mehr nur nach Nützlichkeitsgesichtspunkten anschaut, sondern dass man Bildung tatsächlich als eine Entfaltungsaufgabe anschaut, also den werdenden Menschen in den Mittelpunkt rückt.