Rembrandt van Rijnstraat, Van Goghstraat, Gerard Doustraat: klingende Straßennamen und mir allesamt bekannt. Aber ich befinde mich nicht im vertrauten Amsterdam, sondern im «Malerviertel» von Groningen. Das heißt, in einer anderen Welt. Im niederländischen Norden, in der Provinz. Die es meist nur dann in die landesweiten Medien schafft, wenn etwas Außergewöhnliches die Gemüter erschüttert. Ein Sexualverbrechen etwa wie das 1999 in Friesland, oder ein Erdbeben wie das an Pfingsten in der Stärke von 3,4 auf der Richterskala, das diesmal auch in der Stadt Groningen selbst deutlich zu spüren war.
Seit 1959 wird in der Provinz Groningen nach Erdgas gebohrt. Die Vorkommen entpuppen sich als immens, viel Geld fließt in die Staatskasse und Euphorie kommt auf. Zur besseren Anbindung Groningens an die Metropolregion «Randstad» plant man ab den 1980er-Jahren eine Hochgeschwindigkeits-Bahntrasse, die die Stadt im Stundentakt mit Amsterdam sowie weiter mit Antwerpen, Brüssel, Paris und sogar London verbinden soll. Schöne Namen wie «Zuiderzee-Linie», oder «Hanse-Linie» sind schon gefunden, aber dann wird alles auf die lange Bank geschoben und 2007 endlich der gesamte Plan offiziell abgeblasen: ein Scheitern auf ganzer Linie.
Parallel dazu wird am Ersten Weihnachtstag 1986 in der Region ein erstes Erdbeben der Stärke 3,0 gemessen. Politik und Industrie ignorieren die durch die Gasförderung verursachten Beben weitgehend. Ein Umdenken erfolgt erst Jahrzehnte später angesichts des bisher schwersten Bebens der Stärke 3,6 im Jahr 2012. Mittlerweile ist die Erdgasgewinnung gedrosselt und ein schrittweiser Ausstieg bis 2030 vorgesehen – auch wegen der CO2-Bilanz. Wenig zufriedenstellend bisher verläuft die Regulierung der entstandenen Schäden an Häusern sowie des Wertverlusts der Immobilien. Die Folge der Enttäuschungen: eine ganze Provinz fühlt sich hintangestellt und abgeschrieben.
Das alles ist nicht unser Gesprächsthema, aber es geht mir durch den Kopf bei meinem Besuch bei Peter Middendorp, der in Groningen Geschichte und Journalistik studiert hat und hier mittlerweile mit Frau und junger Tochter ein Reihenhaus bewohnt. In der Provinz Drenthe unweit der deutschen Grenze aufgewachsen, sind seine Themen seit jeher die Ränder.
Als Kolumnist hat er jahrelang mit dem Blick des Außenseiters die Politik in Den Haag kommentiert, um sich zuletzt als Romancier einem 1999 in der Provinz Friesland begangenen Sexualmord an einer Sechzehnjährigen zuzuwenden, der erst 2012 mithilfe einer forensischen DNA-Untersuchung aufgeklärt werden konnte. Das Wagnis an dem Roman Du gehörst mir: Peter Middendorp schlüpft in die Figur des Täters, lässt diesen selbst aus einer fiktiven Ich-Perspektive berichten. Ein noch recht junger Landwirt, verheiratet und Vater zweier Kinder, der nach seiner nächtlichen Tat dreizehn Jahre lang schweigt und weiter in Familie und Betrieb funktioniert – scheinbar unauffällig. Zur Zeit des Aufrufs zu besagter DNA-Untersuchung nähert sich seine eigene Tochter dem Alter seines zur Tatzeit sechzehnjährigen Opfers; vielleicht ein Grund, weshalb er keinen Versuch unternimmt, sich dem Test zu entziehen.
In den äußeren Fakten sind tatsächlicher Fall und Fiktion nahezu deckungsgleich (nur in die Provinz Groningen verlegt). «Der Fall hat hierzulande über Jahre die Medien beschäftigt», meint Middendorp. «Aber ich wollte kein Porträt von außen, sondern eins von innen.» Und so überantwortet er seine Leserschaft einem äußerst fragwürdigen Chronisten. «Es ist ein schmaler Grat, auf dem ich balanciere, und das war durchaus anspruchsvoll, auch formal», meint er, nachdem er uns mit einem Kaffee versorgt hat und wir auf der Gartenterrasse sitzen. «Jede Silbe habe ich abgewogen, auf jeden Rhythmus geachtet. Aber natürlich bleibt immer die Angst, dass das Buch falsch verstanden wird.» Dabei sind die Kniffe und Methoden durchschaubar, mit denen der Ich-Erzähler manipuliert: etwa, wenn er sich gleich eingangs als Kind beschreibt, das miterleben muss, wie sein Vater mit dem Bein in den neu angeschafften Mähdrescher gerät. Eine blutige Szene, viel drastischer geschildert als das eigene Verbrechen und durchtränkt vom Selbstmitleid als nicht wahrgenommenes, weil von den Erwachsenen übersehenes Kind – dabei aber ohne jede Empathie für den Vater, der sein Bein verliert. Sich selbst beschreibt er ausführlich als zärtlichen Vater seiner Tochter – nur über seinen Sohn verliert er kaum ein Wort. «Auch auf solche Fehlstellen muss man achten, um zu merken, was mit dem Mann nicht stimmt», meint Middendorp. Auch die Frau des Täters will nichts bemerkt haben, dabei hat sie ihren Mann nach der Tatnacht noch wegen der nicht herauszuwaschenden Flecken in seiner Unterwäsche befragt. «Ein genügend deutlicher Hinweis, dergleichen beim Lesen zu hinterfragen», so Middendorps Kommentar.
Hinzu kommt die manipulative Verwischung oder gar Vertauschung der Kategorien: Der Sexualmord wird konsequent als «Unglück» bezeichnet, als einmaliger Ausrutscher, quasi als technisches Versagen, als «falsche Einschätzung eines Bremswegs». Die Tat wird letztlich zu einem Stück Naturgewalt, und wenn man nicht achtgibt, ist am Schluss der Täter das Opfer: In der Hauptsache ein tragisch Gescheiterter, der seit der Tatnacht weiterhin tapfer für seine Familie und den Betrieb funktioniert, obwohl er eigentlich seither kein Leben mehr hat. Bis man sich hoffentlich vergegenwärtigt, dass das Leben des Opfers in der Tatnacht endete und nicht das des Täters.
Sicher kann man sich seiner Leserschaft allerdings nicht sein, weiß Peter Middendorp. «Manche Leute lesen sorgfältig, andere oberflächlich», meint er und erinnert an seinen vorherigen Roman Vertrouwd voordelig («Gewohnt günstig») aus dem Jahr 2014, der von seiner Jugend in der grenznahen Kleinstadt Emmen erzählt, wo sein Vater einen Blokker-Laden mit Haushalts-, Einrichtungs- und Spielwaren im Niedrigpreissegment betreibt. Der Sechzehnjährige Ich-Erzähler ist gerade zum zweiten Mal von der Schule geflogen und fertig mit sich und der Welt, während er im elterlichen Laden Kleinmöbel aufbauen und Regale einräumen darf. In pubertärer Absolutheit bricht er den Stab über seine Heimat Drenthe – und der Autor sieht sich massiven Beschimpfungen und Bedrohungen von Einwohnern Drenthes ausgesetzt, die sich durch ihn verunglimpft fühlen. Dabei fehlt es auch in diesem Roman nicht an Hinweisen, dass dem Ich-Erzähler nicht in allen Aspekten über den Weg zu trauen ist. Erkennen aber muss der Lesende sie selbst. Wir sind uns einig, dass Literatur keine Gebrauchsanweisung erträgt. Auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden.
Literarische Intentionen können scheitern. Leben können scheitern, gesellschaftliche Projekte auch. Selbst ein Scheitern Europas und unserer Demokratien ist mittlerweile vorstellbar. Mir fällt auf, wie genau Peter Middendorps Roman Du gehörst mir die Techniken der Manipulation und Wahrheitsverdrehung beleuchtet, besonders auch, wenn vorgebliche Gefühle eines allgemeinen Vernachlässigtseins als Begründung für Untaten herhalten sollen. Das ist ein wichtiger Aspekt, in dem der Roman über sich selbst hinausweist und politisch wird. Unverzichtbar dabei ist jedoch ein kritisches, aufmerksames Hinschauen.
Wie schon Vertrouwd voordelig ist auch Peter Middendorps nächstes Romanprojekt wieder teilweise autobiographisch. Auch diesmal geht es um Unangepasstheit und die Möglichkeit des Scheiterns, festgemacht an einem Alter Ego: «Es handelt von zwei Cousins, die sich sehr ähneln; der eine eher erfolgreich, der andere weniger. Mein Vater ist vor einem Jahr gestorben, und bei der Beerdigung traf ich meinen Cousin wieder, dem es nicht gut ging. Unsere Väter waren Brüder und unsere Mütter Schwestern, von daher unsere starke Ähnlichkeit. Ich will einen Roman schreiben, in dem er an Verfolgungswahn leidet und einen Selbstmordversuch inszeniert, um einer vermeintlichen oder auch echten Bedrohung zu entgehen. Das Ganze führt bis nach Tanger und soll eine Art Road Novel werden.»
Die Gartenpforte öffnet sich und Peter Middendorps Frau und kleine Tochter kommen heim. Auf mich allerdings wartet die Straße – 350 Kilometer Heimweg liegen noch vor mir. Die Tochter packt mir rasch ein Stück Bananenkuchen für unterwegs ein, den sie zusammen mit ihrer Mama gebacken hat. «Zur Erinnerung an unser erstes Gespräch in Groningen», schreibt mir Peter Middendorp währenddessen in das für mich vorgesehene Exemplar des Romans seiner um ein Haar gescheiterten Jugend.