von Marlene Schmeel, Paul Benesch und Marlene Feger (Text & Fotos)

WanderStudiumGenerale

Nr 234 | Juni 2019

Eine Reise in eine neue Form des Lernens.

Wer dem Ende seiner Schulzeit nahe ist, kennt sie wohl nur allzu gut, die erwartungsvolle Frage nach der Zukunft: «Und wie geht’s bei dir weiter?» Diese oder ähnliche Formulierungen scheinen Einstieg in beinahe jedes Gespräch zu sein. Manch einer hat schon lange einen genauen Plan und wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich «durchstarten» zu können. Für uns fünf jedoch – und viele junge Leute in unserem Umfeld – löste diese Frage auch eine gewisse Beklemmung aus. Das lag nicht an mangelndem Interesse an verschiedenen Themen- und Berufsbe­reichen – viel eher war das Gegenteil der Fall: Auf welcher Grundlage soll ich mich für eines der vielen Dinge entscheiden, die mich reizen? Und wenn ich nicht sofort mit einer Ausbildung oder einem Studium beginnen möchte – wie fülle ich die Zeit der Entscheidungsfindung sinnvoll?
Wir (er)fanden eine Form, unserem eigenen Lernimpuls zu folgen, und tauften diese WanderStudiumGenerale. Dahinter steht der Gedanke, nicht nur uns selbst, sondern auch anderen jungen Menschen Anregungen für die Zeit nach der Schule und vor einer Ausbildung oder einem Studium anzubieten.

Was ist das WanderStudiumGenerale?
Das Ende der Schulzeit bedeutete für uns auch das Ende jener Form von Bildung, deren Rahmen und Inhalt zum Großteil durch die Institution Schule und den angestrebten Abschluss geprägt ist. Unser Interesse am Weltgeschehen und das Bedürfnis, uns mit diesem mündig auseinandersetzen zu können, war grundlegend und tragend für unsere Auseinandersetzung mit der Frage: Wie können wir einen eigenen Bildungsweg beschreiten? Den drängenden Fragen unserer Zeit gegenüber wirklich mündig und urteilsfähig zu begegnen, dazu empfanden wir uns nach der Schulzeit nur in Ansätzen befähigt. Unsere Fragen gezielter und souveräner stellen zu können, stand somit am Beginn unseres Projekts.
Im Verlauf einiger Monate fand sich die Gruppe – und die groben Konturen des Projekts wurden uns schnell klar: Da das individuelle Eigeninteresse die treibende Kraft war, sollten auch die Themen, mit denen wir uns in den kommenden Monaten auseinandersetzen wollten, individuell und selbst gewählt sein. So entstand unter uns fünf Teilnehmenden die Vision, uns Dozenten zu suchen. Zuerst sammelten wir Interessen und Themengebiete und suchten dann nach den passenden Persönlichkeiten. Wir wollten gemeinsam erleben und nachvollziehen, was diese Menschen dazu gebracht hat, sich ihren jeweiligen Lebens- und Arbeitsbereichen zu widmen.
Die Reaktionen der von uns kontaktierten Dozenten auf die Idee unseres Projekts waren überwältigend und erfüllen uns noch heute mit tiefer Dankbarkeit. In jeder Antwort auf unsere Anfragen wurde die Vorstellung unseres «Wanderstudiums» begrüßt, und tatsächlich wollten fast alle angefragten Personen ihre Zeit und ihr Wissen mit uns teilen.

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Und so geschah es, dass wir etwas mehr als vier Monate auf lernender «Wander­schaft» verbrachten. Wir besuchten die Dozenten unter anderem in Stuttgart, Hamburg, Dresden, München, Berlin und Amsterdam und arbeiteten an ihren Arbeits- und Wirkungs­orten mit ihnen an so unterschiedlichen Themen wie Clownerie, Philosophie der Moderne, Medizin und Krebs­forschung, Religion und Apokalypse, Geschichte des Zweiten Weltkriegs, die aktuelle Weltwirtschaft und ihre Risiken, die Poesie in Goethes West-Öst­lichem Diwan, Musik und Dirigieren, Buddhismus, Sinneslehre und schließlich Physik. Wir lernten auf eine uns völlig neue Weise in Form von Seminaren, die sich mal über einige Stunden, mal über zwei Wochen erstreckten, je nach Möglichkeit des jeweiligen Dozenten. Die zeitliche und inhaltliche Dichte und die Möglichkeit, in einem so kleinen Kreis zu arbeiten, ließ uns durchweg intensiver und nachhaltiger lernen, als wir es bis dahin kannten. Noch entscheidender für den Erfolg waren aber die Begeisterung der Dozenten und die vielen Begegnungen auf unserem Weg.
Und wir lernten aus und durch Begegnung – mit den Dozenten, mit den Gedanken und Emotionen, die im Vortrag und Gespräch aufkamen, und nicht zuletzt mit uns selbst als Einzelnen und als Gruppe.
Natürlich war da auch noch die Frage: Wie finanzieren wir die Reisen, die Ver­pflegung und die Unterbringung? Wir be­schlossen, eine Stiftung um eine Spende zu bitten, und den Rest durch Straßentheater zu verdienen. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir noch nicht ahnen, wie viele Menschen uns einladen würden, bei ihnen zu übernachten und mit ihnen zu essen. «Gezahlt» wurde mit Gartenarbeit oder Ähnlichem.
Während des Projekts entstand ein Leben als Gruppe, das uns immer wichtiger wurde. Uns war klar, dass wir zusammen nur funktionieren konnten, wenn wir uns gegenseitig zuhören und uns wirklich aufeinander einlassen würden. Nur so konnte eine Atmos­phäre der einzigartig fruchtbaren inhaltlichen Arbeit und einer respekt- und liebevollen sozialen Dynamik entstehen.

Eine kleiner Einblick in die Begegnungen
Immer wieder kam es vor, dass sich scheinbar ganz ohne unser Zutun bereichernde An­gebote ergaben oder von anderen Menschen für uns organisiert wurden. Dies geschah in besonderer Weise mit dem Kunsttherapeuten Josef Ulrich, der eher zufällig einer unserer Dozenten wurde. Da wir uns für alternative Heilmethoden und die Zukunft der Medizin interessierten, namen wir Kontakt zu Dr. Hans Broder von Laue auf, einem Arzt und ehemaligen Leiter und Mitbegründer der anthroposophischen Klinik in Öschelbronn bei Pforzheim. Von Laue war nicht nur bereit, uns einen zweiwöchigen Kurs über die Grundlagen der anthropo­sophischen Medizin zu geben, sondern er organisierte auch Begegnungen mit weiteren Mitarbeitern der Klinik, unter anderem mit dem Kunsttherapeuten Josef Ulrich.
Wir begegneten ihm zum ersten Mal im lichtdurchfluteten Atelier der Klinik, in dem die Kunsttherapie stattfindet. Zwischen Ton­figuren und Staffeleien saßen wir gemeinsam mit diesem so sympathischen Mann, der seinen Beruf als Erfüllung betrachtet, um einen kleinen Tisch. Gebannt lauschten wir, was er uns zu berichten hatte: Er sprach darüber, welche Bedeutung die Bewusstseinsentwicklung eines Menschen in Bezug auf seine Erkrankung hat, welches Bild von lebens­bedrohenden Krankheiten wie dem Krebs in unserer Gesellschaft lebt und wie sich dieses auf den Umgang mit ihnen auswirkt. Auch über die Möglichkeiten zur Selbstheilung, die jeder Mensch in sich trägt, und welche Rolle Ulrich an dieser Stelle der Kunst einräumt, sprach er. Wir durften all unsere Fragen stellen, und es entwickelte sich schon bald ein angeregtes Gespräch. Als wir ihm zum Abschied dankend die Hand gaben, hatten wir, wie so oft während unserer Reise, das Gefühl, dies sei gewiss nicht die letzte Begegnung mit diesem Menschen. In unserer allabendlichen Gesprächsrunde, in der jeder von uns das offene Ohr der anderen geschenkt bekam, wurde deutlich, wie tief bewegt wir alle von Ulrichs Offenheit und seinem Mut waren. Und tatsächlich: Am nächsten Tag lud er uns zu einem sogenannten «Gesundheitsseminar» ein, das er als Teil seiner Therapie leitet. Was wir dort erleben durften, gehört noch heute zu den Stern­stunden unseres WanderStudiumGenerales.

Wie unterschiedlich die Begegnungen verliefen, soll an dieser Stelle noch eine zweite Geschichte verdeutlichen, die ohne unser «Wanderexperiment» wohl niemals in dieser Weise zustande gekommen wäre. Sie verlief gänzlich anders als alle anderen und hat uns Erinnerungen geschenkt, die wir wohl unser Leben lang nicht vergessen werden. In München und Dresden erhielten wir Einblick in das Berufsleben eines Dirigenten. Und nicht nur das, wir tauchten ganz ein in die Welt von Oper und klassischer Musik, als wir im Gärtnerplatztheater in München in jeden einzelnen Arbeitsbereich hineinblicken durften, zum Beispiel die Maskenbildnerei, die Schneiderei, das Notenarchiv; aber auch Proben von Orchester, Chor und Tanz durften wir miterleben und mit den ver­schiedensten Menschen aus dieser ganz eigenen Welt ins Gespräch kommen. Doch nicht genug mit dem Einblick in dieses verzaubernde Universum, aus dem wir alle nur ein wenig unwillig wieder austraten, hinzu kam auch noch ein Kurs bei unserem Dozenten Kiril Stankow, dem Kapellmeister des Theaters. In ungezwungenen Gesprächen bei Kaffee und Kuchen, die sich jedes Mal neu aus unseren jeweiligen Fragen entspannen, bewegten wir verschiedenste Themenkreise rund um die Musik, ihre Aufgabe und Wirkung in der Welt – und das mit einem Menschen, der diesen Bereich aus Begeis­terung zu seiner Profession auserkoren hat und dennoch seine Fragen mit uns teilte. Dass wir fünf alle sehr unterschiedlich tief (zum Teil vor diesem Kurs auch überhaupt nicht) mit der klassischen Musik verbunden waren und sich unsere Vorkenntnisse stark unterschieden, stellte hier, wie auch bei allen anderen Dozenten, keinerlei Problem dar. Im Gegenteil – die Diversität der Sichtweisen befruchtete den Austausch.
Auch einen kleinen praktischen Dirigierkurs erhielten wir bei ihm, verbunden mit der Aufgabe, ihn selbst beim Proben zu beobachten und ihm Feedback zu geben über Auftreten, Ausdrucksweise, Bewegungen etc. Abgesehen davon, dass uns dadurch ein völlig neuer Blick auf einen Dirigenten ermöglicht wurde, hatten wir das Gefühl, nicht ausschließlich beschenkt zu werden, sondern durch unser Interesse und unsere Aufmerksamkeit auch etwas zurückgeben zu können.

Erfahren zu dürfen, was für ein Geschenk es dann bedeutet, lernen zu dürfen und mit dem Gelernten umzu­gehen, erfüllt uns mit Dankbarkeit und Zuversicht. Und abgesehen von diesen Erfahrungen und Einblicken bleibt uns allein aus diesen zwei hier geschilderten Begegnungen ein Feld an Möglichkeiten für neuerliche (beratende) Gespräche, Praktika und Empfehlungs­schreiben …
«Es ist nicht zu Ende!», empfanden wir an unserem letzten gemeinsamen Abend – und tun es noch immer, auch wenn unsere Reise inzwischen hinter uns liegt. Unser Herzensanliegen ist es nun, diesen Impuls, der uns so viele Perspektiven gebracht hat, anderen weiterzugeben, die ihm auf ihre eigene Weise Form geben und neugierig los­wandern.