Prolog. Das Bergell (ital. Bregalia) in der italienischen Schweiz: Es ist beinahe dreißig Jahre her, als die Schönheit des sommerlichen Soglios den Wanderer sprachlos macht. Aus dem Schatten des Kastanienwalds tretend, schreitet er auf ein vollkommen harmonisches architektonisches Ensemble aus verschachtelten Häusern und Ställen zu. 1100 Meter hoch auf einem Sonnenplateau gelegen und von den gezackten Dreitausendern der Scioragruppe überragt, eingerahmt vom schlanken Turm der St. Lorenzo Kirche auf der einen Seite und der leuchtend hell- und dunkelgrünen Hügellandschaft des Piz dal Märc auf der anderen. Heller Putz, dunkles Holz und der silbrige, im Untergrund anstehende Gneis – als Platten die verwinkelte Dachlandschaft deckend, als Baustein der Hausfundamente und als unregelmäßiger Pflasterstein, der noch die winzigsten Durchschlüpfe gangbar macht. Alles wirkt so, als wäre es schon vor Jahrhunderten buchstäblich versteinert. Und als wäre es nicht genug, steht der Wanderer schließlich vor den drei barocken Palazzi der Salis-Familie, magisch angezogen vom schattigen Gartenlokal dahinter, von den Staudenrabatten, den Buchsbaumhecken und den Riesensäulen der beiden Mammutbäume. «Soglio è la soglia del paradiso» – «Soglio ist die Schwelle zum Paradies». Giovanni Segantinis Wortspiel ist scheinbar nichts hinzuzufügen.
Wer den Zauberort Soglio bereist und darüber schreiben will, kommt an Rilke nicht vorbei. Denn auch er hat «dieses sehr besondere Bergnest» besucht, 1919, wenige Monate nach dem Ende «des Weltunheils», rastlos wie so oft – und wie so oft auf der Suche «nach einer Zuflucht», einem Muße- und Schreibort für die Arbeit an den Duineser Elegien. Zwei Monate, von Ende Juli bis Ende September, verbringt Rilke hier als Pensionsgast, einquartiert im barocken Palazzo Battista, einem «ländlichen Haus mit alten Dingen». Er sitzt in den schattigen Nischen des «melodischen Gartens, in dem man die Notenzeilen noch erkennt unter der verwilderten Musik seiner Blumen» und vertieft sich in die Bände der eigens für den berühmten Dichter zugänglich gemachten ehrwürdigen Salis’schen Bibliothek. «Soglio, mein erster Ruhe-Ort» schwärmt er schon bald und beschreibt seine Monate im graubündischen Bergell mit einem beinahe faustischen Ausruf: «Der Moment ist so schön, dieser um-mich-geschlossene Venusberg.»
Von den Giovanolis, Corettis und Ruinellis, von den Dörflern und ihrem meist schweren, entbehrungsreichen Leben schreibt Rilke nichts. Überhaupt dringt sein Blick nicht sehr weit über die Mauern des Palazzos hinaus, dringt nicht sehr tief in eine Welt ein, die seit Jahrhunderten von den immer gleich unerbittlichen Gesetzen der Subsistenzlandwirtschaft regiert wird – der Notwendigkeit der Selbstversorgung. Stattdessen sieht der Dichter, nicht anders als der moderne Tourist, vom Hang unterhalb Soglios bis hinüber ins Grenzdorf Castasegna den «herrlichen Kastanienwald» liegen, einzigartig in Europa, mit aufgeasteten Baumkronen oben und einer Mähwiese darunter. Sieht einen parkähnlichen Hain, der zur Lust des Betrachters und zum ergötzlichen Flanieren gepflanzt zu sein scheint, in Wahrheit aber von der Not kündet, jeden Quadratmeter Boden möglichst doppelt und dreifach nutzen zu müssen. Denn was heute als «Superfood» angepriesen und vermarktet wird, die Esskastanie oder Marone, war lange Zeit wenig mehr als das «Brot der Armen», ein mühsam gewonnener Ersatz, dort, wo die Hauptgetreidearten nicht wachsen wollen und die Kartoffel noch unbekannt war.
Aus der Bauernperspektive ist Soglio, samt seiner flachhügeligen Umgebung, ein von der südlichen Sonne ganztätig verwöhntes Hochplateau. Mit fruchtbaren, durch generationenlange Erbteilung kleinstteiligen Parzellen, auf denen Gemüse und Kräuter angebaut und Obstgehölze gepflanzt wurden, die ansonsten aber, samt den zugehörigen Maiensässen und Alpweiden, vor allem den Kühen, Schafen und Ziegen, der Milch-, Käse- und Fleischproduktion vorbehalten blieben.
Doch wie gut die Böden auch sein mochten, unterm Strich war das Leben und Wirtschaften in Soglio stets karg und bescheiden. Und das blieb auch so, als andernorts die Bauern ihre Selbstversorger-Vergangenheit hinter sich ließen und sich auf den langen Weg zur industrialisierten Landwirtschaft machten. Im Unterland und fast überall sonst wurden Hand- und Pferdearbeit durch Traktoren und Maschinen ersetzt – und aus dem Komplettbetrieb «Bauernhof» entwickelte sich Schritt für Schritt die moderne, hoch spezialisierte Agrarindustrie. Und natürlich hielten die Segnungen der arbeitsteiligen und immer wohlhabender werdenden Gesellschaft Einzug. Zentralbeheizte, elektrifizierte Wohnungen, Supermärkte, Kaufhäuser und vor allem jede Menge neuer Ausbildungs- und Einkommensmöglichkeiten für die aus der Landwirtschaft freigesetzten Erwerbstätigen.
Und in Soglio? Haben früher 60 Familien von der Landwirtschaft gelebt, sind heute gerade einmal vier Vollerwerbsbauern übriggeblieben. Und natürlich haben die Giovanolis und Corettis heute geländegängige Traktoren samt Mähwerk, Heuwender und Anhänger. Und ihre Häuser und Höfe sind, wie die anderen neu erbauten Häuser an den Rändern Soglios auch, teilweise moderner und komfortabler überbaut worden. Aber die Mühsal am Berg, die weiten Wege und der eher dürftige Ertrag sind geblieben.
Wie man hier oben überhaupt mithalten und sein Auskommen finden kann? Zusammen mit ihrem 88-jährigen Vater Franco ist Nelda Coretti inzwischen hauptverantwortlich für den Hof mit der 60-köpfigen Mutterschafherde, bedient nicht den anonymen «Markt», sondern liefert ihr hochwertiges Fleisch zu besseren Konditionen in die Küchen guter Restaurants – auch ins Hotel Waldhaus, dem legendären Engadiner Fünf-Sterne-Haus in Sils Maria. «Außerdem», sagt sie und sieht dabei keineswegs nur glücklich aus, «gibt es zwanzig verschiedene Beiträge für kultiviertes Land und für die Arbeit am Steilhang – wenn man’s geschickt macht, könnte man sehr gut davon leben.»
Tatsächlich sind die Schweizer Landwirtschaftssubventionen ein zwar immer kontrovers diskutiertes, aber dennoch höchst wirksames Instrument der «Landschaftsentwicklung». Wer’s nicht glaubt, fahre auf der Bergeller Talstraße von Spino in der Schweiz, bis Piuro in Italien und nehme die Berghänge in den Blick. Während die Bündner Siedlungen zumeist von Grünland umgeben in offener Landschaft liegen, hat im EU-Italien der Wald das ehemals kultivierte Land vielfach zurückerobert. Eine Szenerie, bei der man an die im Dschungel verschwundenen Tempel Kambodschas denken mag und die sehr viel über das Verhältnis von Natur und Kultur im Alpenraum aussagt. Und über die in Soglio nach wie vor hohe Biodiversität.
«Die Vielfalt hier von der Kultur bestimmt. Biologische und kulturelle Vielfalt bedingen einander. Wo der maßvolle Mensch sät, werkt und gestaltet, wird vieles sprießen und blühen wie von selbst», sagt Walter Hunkeler, der Begründer der Soglio Kräuter-Pflegeprodukte. Das Gartengespräch mit dem vor über vierzig Jahren aus Basel Hierhergezogenen ist ein zugleich sinnliches und intellektuelles Vergnügen. Denn während der Blick des Besuchers über die sommerbunten Wiesen wandert und bei den Blüten von Klappertopf und Salomonssiegel, Wiesensalbei und Teufelskralle, Feuerlilie und Alpenknöterich verweilt, während Apollofalterpärchen und riesige Blaue Holzbienen den Bildausschnitt queren und eine edelsteinleuchtende Smaragdeidechse zwischen den Mauerfugen verschlüpft, begreift er irgendwann, dass eine solche Lebendigkeit sich nur dadurch erhalten hat, dass die Welt hier oben vom mähdreschergroßen Rachen der industriellen Landwirtschaft verschont blieb. Und dass es nach wie vor Menschen gibt, die ihre Schafe und Ziegen über das Land schicken oder mit der Sense die Kräuterwiesen mähen und heuen – mit oder ohne Subventionen.
Und mit «viel Idealismus», betont Felix Brügger und weiß nach zwanzig Jahren harter körperlicher Arbeit genau, wovon er spricht. Denn auch er und seine Frau Vreni sind ziegenhütende Zuzügler aus Berufung, Kastanienröster aus Leidenschaft und – mit ihrer hauptsächlich den Tourismus bedienenden Bottega – lebenskluge Nischenbesetzer.
Es bliebe noch so viel über Soglio zu berichten! Über das allgegenwärtige Wasser, die Sturzbäche und ausgewaschenen Gneiströge. Über den großen Bergsturz von 2017 im nahe gelegenen Bondo. Über den einsam das Tal querenden Bartgeier. Über Fernandos leise und feinkluge Reflexionen über Architektur und Lokalpolitik. Über das von Tosca organisierte herbstliche Kastanienfest. Über Elenas privates Bauernhausmuseum. Und über die vielen anderen Alt- und Neubürger Soglios, deren Heimat zum Heulen schön ist und die alles sind, nur keine Hinterwäldler oder Museumsbewohner.
Es bliebe viel zu sagen, aber die letzten Worte sollen Danco gehören: «Heute haben wir alles, was uns damals fehlte. Aber uns fehlt das, was wir damals hatten.» Und Nelda: «Schreiben Sie schön über uns und schreiben Sie bitte, dass die Touristen nicht immer durch unsere Wiesen laufen sollen!»