Mehrgenerationenwohnen» – ein Thema das durch die Medien geistert und durch die Köpfe, zumal immer mehr Köpfe in diesem Land grau werden, immer mehr Menschen sich von Altersarmut und Einsamkeit bedroht fühlen und es tatsächlich auch sind. Die Suche nach einem Beispiel für gelungenes Miteinanderleben über die Alters- und Einkommensgrenzen hinweg führte nach Weimar, einer Stadt, deren Ruf als Pensionärsrefugium und Altersruhesitz mindestens so alt ist wie das Goethe-Schiller-Denkmal auf dem Theaterplatz.
WohnStrategen – dass die Thematik vielschichtig und kompliziert sein könnte, lässt schon der Name erahnen. Bei der Suche nach einer «Muster-Mehrgenerationen-Anlage» waren sie die Scouts, die durch den Dschungel der Möglichkeiten führten. Als thüringische Regionalstelle des deutschlandweit agierenden Forums gemeinschaftliches Wohnen kennen die WohnStrategen die diversen Organisations-, Bau- und Finanzierungsformen, denen man auf diesem Feld begegnen kann. Und sie kennen «Wohn-Gemeinschaftsanlagen» in allen Stadien der Realisierung. «Schauen Sie sich in Weimar das Projekt An der Sackpfeife an. Die haben fast zwanzig Jahre Erfahrungen mit dem Thema – auch wenn sie damals nicht ausdrücklich als ‹Mehrgenerationen-Projekt› angetreten sind.» Und so sitzt der Reporter an einem frostigen Wintertag im Gemeinschaftshaus einer eher unauffälligen, kompakt gebauten Wohnsiedlung im Grüngürtel der ehemaligen Residenzstadt an der Ilm. Im Gespräch zunächst mit Ulla Schauber von den WohnStrategen und dann, im Lauf zweier Tage, mit den engagierten und erzählfreudigen Bewohnern der Wohnhaus eG Weimar.
Dass die WohnStrategen ihrem Thema nicht als Außenstehende verbunden sind, zeigt sich schon im Gespräch mit der Raum- und Umweltplanerin Schauber. Ihr eigener biographischer Einstieg ins Thema war eine Erfahrung des Scheiterns! Mit Gleichgesinnten begonnen, befand sich ihr Wohnprojekt schon in der letzten Phase der Planung, und ein Grundstückskauf stand kurz bevor, als eine Reihe privater Veränderungen – beruflicher Umzug, Trennungen etc. – das «Aus» zur Folge hatte.
«Während der ganzen Gründungsphase hatten wir feststellen müssen, dass es in Thüringen kaum Bürgerberatung zum Thema gibt.» Eine Lücke, die Ulla Schauber und mit ihr Ulrike Jurrack, Architektin und Partnerin im gemeinsamen Planungsbüro StadtStrategen, sachkompetent und gemeinnützig schließen wollten. Inzwischen, nach einem knappen Jahrzehnt Arbeit, ist das auf acht aktive Fachleute angewachsene Team in Thüringen längst sichtbar geworden, betreibt eine Internet-Plattform für Anbieter und Suchende, gibt einen Newsletter heraus, organisiert Wohnprojekt-Tagungen und berät Verantwortliche in der Politik, der Wohnungswirtschaft und in den Sozialverbänden.*
Inzwischen zeigt das «Boom-Thema» auch im bislang eher unberührten Osten der Republik sehr verschiedene Gesichter. Während in den Städten insbesondere ältere Menschen mit geringem Einkommen Modelle auf Mietbasis realisieren wollen und dazu auch die Kooperation der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften anstreben, wächst in ländlichen Regionen eine fruchtbare Subkultur der Kooperativen – ökologisch, basisdemokratisch, genossenschaftlich.
Und zwischen diesen Polen? Vieles geht, insbesondere dann, wenn die Organisations- und Bauformen der Wohnprojekte aus der jeweils konkreten Situation «geronnen» sind. Das im Freiburger Studentenmilieu begründete, inzwischen bundesweit operierende «Mietshäuser Syndikat» steht dann gleichberechtigt neben der am Miteinander neu ausgerichteten klassischen Wohneigentümergemeinschaft, deren Protagonisten die individuelle Altersvorsorge nach wie vor genauso wichtig finden wie die Möglichkeit, ihren Kindern etwas vererben zu können.
Der wichtigste Rat der WohnStrategin? «Die Vorbereitung braucht Zeit, drei bis fünf Jahre. Doch was immer am Ende herauskommt - zuvor muss geklärt werden, wie man Gemeinschaft und Alltag gestalten will. Wir empfehlen: Nehmt euch nicht zu viel vor, nur ein Minimalprogramm. Das klingt vielleicht pessimistisch – tatsächlich jedoch überwiegen bei den meisten Wohnprojekten, die ich kenne, letztendlich immer die Vorteile.»
Und wie sehen das die Bewohner der Siedlung An der Sackpfeife? Immerhin blicken viele von ihnen auf 18 Jahre Erfahrung zurück. Über einige der besonderen Qualitäten einer Gemeinschaftswohnanlage herrscht Konsens – gleichgültig, ob der Reporter das junge Psychotherapeutenpaar mit Kind befragt, eine Doppelhaus-Patchworkfamilie oder das Rentner-Großelternpaar mit den Wohnhäusern der Kinder in der Nähe:
«Wir feiern jedes Jahr ein Sommerfest, Wintersonnenwendfeuer, veranstalten Kino-, Musik- und Vortragsabende.» – «Man fühlt sich verantwortlich und möchte, dass es schön aussieht!» – «Wenn fünf ältere Ehepaare, die sich vorher nicht gekannt haben, regelmäßig zusammenkommen und sogar gemeinsam in den Urlaub fahren – das ist ein sympathisches Gefühl von Sicherheit!» – «So viel Hilfe, wie ich hier angeboten kriege, kann ich ja gar nicht annehmen!» – «Für die Kinder ist die Siedlung eine exzellent geschützte Umgebung.» – «Diese Art zu leben hält einen jung. Es ist die beste Lebensform, die ich bisher hatte!» – «Ich liebe das: du sitzt draußen auf der Bank, schneidest eine Melone auf – und alle Kinder kommen dazu!»
Also, alles eitel Sonnenschein? Keine Probleme? «Die entstehen zwangsläufig. Es gibt Höhen und Tiefen wie in einer Familie.» Einer der ältesten Bewohner, gelernter Architekt, will die Schwierigkeiten des Weimarer Wohnprojekts nicht verschweigen, dennoch blitzt zwischen seinen wohlerwogenen Worten immer wieder blanke Euphorie auf. «Ich bin bis heute von unserem Siedlungsmodell restlos überzeugt. Das Ziel damals war: preiswert und doch hochwertig zu bauen. Das ging nur durch eine schnörkellose, serielle Architektur. Drei Hausgrößen, Variationen in der Raumaufteilung nur bei den nicht tragenden Wänden, eine überschaubare Auswahl von Decken-, Wand- und Bodenmaterialien. Und weil wir als Genossenschaft aufgetreten sind, hatten wir nur einmal die Kosten fürs Grundbuch, für den Bau einer gemeinsamen Heizungsanlage sowie einmalige Anschlussgebühren bei Strom, Gas und Wasser. Und was die Gesamtgröße angeht: 26 Häuser, die kannst du noch selber, ohne eingekaufte Dienstleistungen, verwalten.»
Während der Reporter den Ausführungen folgt, begreift er, dass in die bauliche und organisatorische Struktur der kleinen Siedlung eine erstaunliche Fülle an Erfahrungswissen eingeflossen ist – und dass diese Erfahrungen personalisiert werden müssen: «Ohne Professor Stamm-Teske wäre hier nichts Vergleichbares entstanden. Er hatte zuvor in der Schweiz bereits mehrere erfolgreiche Wohnprojekte aufgebaut und immer auch dort gewohnt.» Tatsächlich ist die Wohnhaus eG Weimar ein Sonderfall. Am Anfang stand nicht eine initiative Gruppe, sondern mit dem Schweizer Architekten Walter Stamm-Teske ein charismatischer Spiritus Rector, der seinen Worten als Professor an der Bauhaus-Universität Wohnprojekte-Taten folgen ließ. «Er wusste genau, was er wollte, und er war in der Lage, seine Vorstellungen gegenüber der Stadt und den Bauplatz-Interessenten durchzusetzen.» Seine Idee: ein an Schweizer Vorbildern orientiertes, genossenschaftlich organisiertes Wohnmodell, verbunden mit einem auf den Ort und die Rahmenbedingungen perfekt zugeformten Baukörper. «Er hat eine ziemlich herbe Formulierung für das gewählt, was ihm vorschwebte: ‹Bewohnbarer Rohbau› – das hat in Weimar ziemlichen Staub aufgewirbelt.»
Wie neu und experimentell der Siedlungsbau An der Sackpfeife tatsächlich war, mussten die Projekt-Interessenten schon in der Vor- und Frühphase der Planung erfahren. «Zu Anfang gab es keine fertigen Pläne. Manches, das angekündigt worden war, wurde später fallen gelassen, eigene Wünsche wurden kaum berücksichtigt.» Trotz allem aber waren die künftigen Bewohner mit der Arbeit des Architekturprofessors zufrieden. «Wir dachten, wenn die Architekten selber dort wohnen, dann ist das etwas Seriöses. Und das war es auch. Minimaler Grundrissverbrauch für maximale Wohnungsquadratmeter, qualitativ hochwertige und für die damalige Zeit gut dämmende Baustoffe, kluger Einsatz von Außenmauern und die einzigen begrünten Dächer weit und breit.»
Natürlich gab es kritische Anmerkungen, zumal von denen, die gerade erst die DDR «hinter sich gebracht hatten»: «Kollektivismus und Sozialismus haben nicht funktioniert. Da fragt man sich schon, ob die Genossenschaft gegenüber dem Privateigentum wirklich das bessere Modell ist. Was ist, wenn man verkaufen möchte und die übrigen Genossenschaftler nicht mit dem potenziellen Käufer einverstanden sind? Und dann die jährliche Wirtschaftsprüfung durch den Genossenschaftsverband – das kostet viel Geld, bringt uns aber eigentlich gar nichts.»
Der erste Einwand ist «nach acht glatten Hauswechseln» inzwischen von der Realität entkräftet worden. Und was das Genossenschaftsmodell angeht: hier wurde selbst der erfahrene Architekt Stamm-Teske überrascht. Denn während die schweizerischen Genossenschaften vergleichsweise formlos zusammenfinden können, gibt das deutsche Genossenschaftsgesetz den Akteuren die Einhaltung differenzierter Regeln vor. Den findigen und energischen Geist des Siedlungspioniers konnte das allerdings nicht aufhalten: «Professor Stamm-Teske hat nicht nur etliche DIN-Normen ‹kreativ› ausgelegt, auch die besondere Konstruktion unserer Genossenschaft gibt es in Deutschland sicherlich kein zweites Mal.»**
Fazit? Gemeinschaftliches, genossenschaftliches und generationenübergreifendes Wohnen funktioniert. In Weimar und andernorts. Die Voraussetzung? «Man muss sein distanziertes Nachbarschaftsverhalten aufgeben!» Wer sich auf den langen Weg dorthin machen möchte, sollte die Bedeutung der Architektur nicht gering schätzen. Aber auch nicht überbewerten. Denn, so der wohnkluge, inzwischen zu neuen Projektabenteuern weitergewanderte Architekt Stamm-Teske, «ein Haus darf nicht einfach auf die Bewohner maßgeschneidert werden, schließlich hat es eine eigene Lebensdauer von über 100 Jahren, während die Bewohner im statistischen Mittel alle 20 Jahre wechseln. Oder sich verändern!» Eine komplizierte Antwort auf eine scheinbar einfache Frage? Eine realistische!