«Zwecklosigkeit heiligt den Aufenthalt.» Mit dieser markanten Aussage charakterisierte Alfred Polgar, einer der bekanntesten Autoren der Wiener Moderne und einer der scharfzüngigsten Kritiker seiner Zeit, das lange Sitzen und scheinbar untätige Sein in einem der Wiener Kaffeehäuser an der prachtvollen Ringstraße.
Hier rauscht mehrspurig der Autoverkehr entlang, die roten Straßenbahnen, deren Türen beim Öffnen und Schließen leise seufzen, verstärken quietschend die Geräuschkulisse, deren Großstadtrhythmen von den Touristen-Fiakern gebrochen werden. Hier findet sich kaum ein Baustil der Geschichte, der nicht imitiert wurde: antike Tempelarchitektur beim Parlament, flämische Gotik beim Rathaus, Neorenaissance an Neuer Hofburg, Universität und Museen, Neubarock am Burgtheater. Entlang der Ringstraße, die in diesem Jahr ihren 150. Geburtstag feiert, feiert Wien sich selbst. Feiert seine Vergangenheit und damit zugleich seine Gegenwart. Denn, so behauptet es zumindest Alfred Polgar, «die Österreicher sind ein Volk, das mit Zuversicht in die Vergangenheit blickt.»
Eine andere geglückte Fusion aus Vergangenheit und Gegenwart ist erlebbar, wenn man den Ring und seine Kaffeehäuser, die auch heute noch gerne generationsübergreifend und ausgiebig als erweiterte Arbeitszimmer von Kreativen genutzt werden, verlässt und sich nahe dem Schlosspark von Schönbrunn mit der Straßenbahnlinie 60 auf den Weg in den 23. Wiener Gemeindebezirk macht. 1883 als erste Dampftramwaylinie zwischen Hietzing und dem südlich von Wien gelegenen Perchtoldsdorf eröffnet, passiert die 60 in der Speisinger Straße 258 ein Haus mit wechselvoller Vergangenheit, das gegenwärtig seine Bestimmung in der Kunst gefunden hat.
«Das Gebäude wurde 1876 erbaut und war schon zu Kaisers Zeiten eine Schule», erzählt Matthias Reichert, der die heute dort beheimatete Freie Kunstschule – Goetheanistische Studienstätte zusammen mit Helen Kessler, Christian Pichler und Niklas Reichert leitet. «Im Ersten Weltkrieg dann war es Lazarett, ‹Marodenhaus›, wie das in Österreich heißt. Dann war es wieder Schule. Das ist auch das Flair hier in unseren Räumlichkeiten. Nie wurde etwas dazugebaut, sondern immer nur in den alten Gemäuern wieder neu renoviert. Viele ältere Menschen aus der Umgebung, die einmal hier zur Schule gegangen sind und immer mal wieder vorbeischauen, sagen: ‹Die Schule riecht immer noch so wie damals.› Ich hoffe dann, dass es nicht der Geruch von Angst ist – bzw. ich glaube, dass es uns gelungen ist, den Geruch von Angst umzuwandeln in Zuversicht. In die Zuversicht, dass man aus vielen Dingen etwas machen kann, auch wenn man in einem alten Anzug steckt.»
Und was in der Goetheanistischen Studienstätte getan wird, hat viel mit Zuversicht und noch mehr mit Umwandlung, mit Verwandlung zu tun – was nicht nur am Namen liegt. Der Terminus «Goetheanismus», der zum ersten Mal 1803 in einem Brief des schwedischen Dichters und Diplomaten Karl Gustav Brinckmann an seinen Freund Johann Wolfgang von Goethe steht und dessen allumfassende Weltzuwendung meint, die im Einzelnen das Ganze sucht und im Ganzen das Einzelne begreift, wurde durch Rudolf Steiner auf alle Formen des Forschens und des Lebens erweitert. «Mit Goetheanismus verbindet man den Begriff ‹Metamorphose› – ich verbinde damit vor allem lebendiges Denken, ein zyklisches Bewusstsein für Zeit, d.h. wie sich die Einzelerscheinungen in der Zeit wahrnehmen lassen», erklärt Matthias Reichert beim Kaffee im Büro, in dem überall kleine und größere Skulpturen stehen und Zeichnungen mit sich verwandelnden Formen, sich steigernden Farbreihen hängen. «Das Künstlerische ist bei uns ja ein Übungsweg, und die Zyklen, die es innerhalb der Natur gibt, das sind alles Anschauungs- und Erkenntnisfelder. Sich hieraus inspirieren zu lassen und daran zu üben – diese Wechselwirkung zwischen Selbst- und Welterkenntnis ist das Wesentliche dessen, was eigentlich Goetheanismus ist.»
Eine gewisse Form der Metamorphose durchlief auch die Studienstätte seit ihrer Gründung: Den «geistigen Grundstein» hatte der Künstler, Lehrer und Dozent Wilhelm Reichert gelegt – doch er konnte diesen «Ort des Dialogs von Kunst und Pädagogik» nur veranlassen, nicht aber selbst erleben. 1982 starb er unerwartet – und war bei der Eröffnung im Herbst 1983 dennoch an der Seite seines Sohnes Matthias und an der von Christian Hitsch, Tobias Richter und Georg Friedrich Schulz, die mit anderen seine Idee in jenem alten Gemäuer im Stadtteil Mauer Wirklichkeit werden ließen.
Als Ausbildungsort für Waldorfpädagogen, Kunsttherapeuten und freie Kunstschaffende gegründet und von Studierenden aus der ganzen Welt über viele Jahre frequentiert, führte der Diskurs zwischen jenen, die nach staatlicher Anerkennung und Finanzierung strebten, und jenen, die darin mehr Bevormundung und Kontrolle als Unterstützung und Chance sahen, zur Rückbesinnung auf die Ursprungsidee: «Wir haben einen Leitsatz, der von meinem Vater stammt», erläutert Matthias Reichert, «und dieser Leitsatz ist für uns wieder Vorbild geworden: Ein Handeln, das sich frei bewegt, folgt einer Idee und nicht einem System.»
Das Bewusstsein, das sich der Wirksamkeit der Metamorphose bedient,
ist wie diese Zyklen erfassend.
Es behandelt das Einzelne als eine Erscheinungsform des Ganzen.
Das Einzelne zeigt sein momentanes Sosein.
Das Ganze zeigt sein ewiges Allsein.
Das Einzelne, das in der Zeit sich wandelt, offenbart durch sein Wandeln,
dass es aus einem Allsein hervorgegangen ist.
Das Bewusstsein, das sich dem Wandeln des Einzelnen in der Zeit anpasst,
erlebt in dem Wandel die Wirkungsweise der Idee.
Überschaut das Bewusstsein alle Erscheinungen als Einheit, so erlebt es die Idee bewusst.
Begreift das Bewusstsein die die Einzelform verwandelnden Gestaltungkräfte,
so erlebt es die schaffende Kraft der Idee handelnd.
Das Bewusstsein der Idee erlebt diese sich offenbarend und schaffend an den Dingen.
Das Handeln, das aus diesem Bewusstsein fließt, ist ein freies, das die Idee – und sonst nichts – als Motiv in sich trägt.
Wilhelm Reichert
Dass dieser Leitsatz heute besonders die zuvor erwähnte Zuversicht stärkt, ist – neben dem angebotenen «Studium Individuale» für Erwachsene – vor allem ein Glück für junge Menschen, die in der Studienstätte ein ungewöhnliches Geschenk erhalten: Zeit. Zeit für sich. Als Systemverweigerer sind sie für niemanden interessant und scheinen sich für nichts zu interessieren. Diesen Jugendlichen ihrem Wesen gemäß durch das künstlerische und handwerkliche Tun etwas zu ermöglichen, was sie sonst nicht finden, das ist die Intention. «Letztlich ist Verweigerung ja die Polarität von ‹ich will›. Da müssen wir es manchmal pädagogisch dann aushalten, dass einer drei Wochen an der Hobelbank steht und die einzige Aufgabe, die er hat, ist, pünktlich zu kommen und pünktlich zu gehen. Unsere Aufgabe ist es, ihm Raum zu geben und ihn in Ruhe zu lassen, bis er merkt: Keiner will was von ihm, sondern wir können warten, bis er etwas will.»
Die Jungs zwischen 14 und 21 Jahren – bis dato waren noch keine weiblichen Pendants da –, um die sich besonders der Möbeldesigner Niklas Reichert und der Bildhauer Christian Pichler mit Gleichmut und Hingabe bemühen, sind bis zu vier Jahren an der Studienstätte. Manche schauen sich in dieser Zeit zudem nach einer Lehrstelle um, andere machen via Abendschule den Schulabschluss.
Da die Studienstätte als Privatschule jedoch Geld kostet, die Finanzierung aber nicht immer durch die Eltern getragen werden kann, «muss man sehen, wie man die Mittel von woandersher bekommt», sagt Matthias Reichert und nimmt vorsichtig eine kleine Skulptur in die Hand, die an einen Engel erinnert.
Diese kleine Gestalt dient als Stellvertreter für das, was Anfang der 1990er-Jahre geschah und bis heute geschieht: Kunst und Wirtschaft schaffen einander neue Möglichkeiten und Perspektiven. Wenn man die Geschichte hört, hat sie fast etwas Irreales und passt dadurch umso mehr in die Stimmung dieses besonderen Ortes: «Ich saß hier im Büro, und es klopfte an die Tür. Herein kam ein Mensch, der freundlich schaute und sagte: ‹Guten Tag, ich bin Richard Hofer, ich komme von dm drogerie markt; wir möchten gerne mit Ihnen zusammenarbeiten.› – Ich war etwas verblüfft, fand es aber interessant, denn es gehört irgendwie auch zur Studienstätte dazu, dass wir keine Pläne am runden Tisch machen, was wir in der Welt bewirken wollen, sondern dass wir die Geduld haben, auf die Fragen zu warten, die aus der Welt auf uns zukommen.»
Und was von dm drogerie markt Österreich auf sie zukam und ergriffen wurde, ist zu einer wechselseitigen «Kulturgemeinschaft» auf verschiedenen Gebieten geworden. So werden an der Studienstätte u.a. Kurse im handwerklich-künstlerischen Bereich für die Auszubildenden gegeben, seit 2013 wird eine Sommer-Kunstakademie für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angeboten, und es werden kleine Skulpturen, sogenannte «Editionen», entworfen und hergestellt, die als künstlerische Antworten auf die im Unternehmen lebenden Fragen sichtbar werden und als Kunst-Geschenk für die Menschen gedacht sind, die ein Jubiläum feiern, in Rente gehen oder ihre Ausbildung beendet haben.
Die einzelnen Editionen haben eine gemeinsame Handschrift und dennoch einen ganz eigenen Charakter. «Denn schaut man beispielsweise auf die Lehrlingsausbildung», verdeutlicht Matthias Reichert und stellt den «Engel» mittig zwischen die Kaffeetassen, «so bietet dm ja parallel zur fachlichen Ausbildung eine Form der Persönlichkeitsbildung für die Jugendlichen an. Dass die Jugendlichen dann am Ende dieser drei Jahre einen ‹Genius› in Form einer künstlerischen Kleinplastik geschenkt bekommen, die so gestaltet ist, dass sie nicht fertig erscheint, sondern in Entwicklung begriffen ist, erinnert die jungen Menschen daran, was als Genialität auch in ihrer Persönlichkeit ruht. Wer in Rente geht, hat eine ganz andere Formgeste, zeigt eine andere Bewegung – verbindet einen Anfang mit einem Abschluss, der jedoch kein Ende bedeuten muss.»
Kunst als Geschenk – kein neuer, aber ein überaus schöner Gedanke, vor allem dann, wenn er auch anderen eine Möglichkeit schenkt. Und das geschieht durch diese «Kulturgemeinschaft» gleich mehrfach:
Das Honorar für die Editionen fließt in die Arbeit mit den Jugendlichen in der Studienstätte, die finanzielle Unterstützung brauchen, und die Herstellung der Kunstwerke schafft zudem andernorts «Arbeit mit Sinn». Beispielsweise in einer kleinen Gießerei in Bayern, die sonst für renommierte Künstler Großaufträge fertigt und nun die kleinen Kunstwerke in die Arbeitsabläufe integrieren kann, wodurch keine Produktionspausen entstehen, die für die Mitarbeiter unbezahlten Zwangsurlaub bedeuten würden. Oder in einer Einrichtung für psychisch Kranke in Wien, welche die stilvollen Verpackungen herstellt und durch die regelmäßigen Aufträge ihr soziales Engagement weiterentwickeln kann.
Die Editionen aus der Studienstätte werden so von der Idee über die Produktion bis zum Empfänger zu einem sozialen Gesamtkunstwerk, das in Bewegung bringt und die Wirklichkeit über die eigenen Grenzen und Bedürfnisse hinaus verwandelt.
Beim abschließenden Gang durch die von Kunst erfüllten Ateliers und Werkräume, die von anderen Schulen der Umgebung mitgenutzt werden, sowie durch den mit Skulpturen bevölkerten wild-verwachsenen Garten mischt sich im Erdgeschoss der Geruch von Farbe, Holz und Metall mit jenem unwiderstehlichen Duft von Büchern.
«Die Bücherstube ist ein wichtiges Element hier. Sie ist sozusagen die Schwelle zwischen Außenwelt und dem, was wir im Innern tun.» Wer über diese Schwelle tritt, betritt einen großzügigen Raum mit ausgewählten Spielsachen und selbstgemachten Puppen, einem vielfältigen Sortiment aus Literatur, Fach- und Sach-, Kinder- und Jugendbüchern und kann kaum ohne die nächste Metamorphose wieder hinaus: Geldscheine verwandeln sich in bedruckte Seiten. Und diese trägt man dann zufrieden zurück in eines der Kaffeehäuser an der prachtvollen Ringstraße, um dort genüsslich jenseits von Zeit und Zweck zu sitzen und zu sein.