Brigitte Werner

Die Schlei

Nr 190 | Oktober 2015

Glückliche Tiger in meinen Augen

Gibt es mehrere Heimaten? Gibt es überhaupt die Mehr­zahl des Begriffs «Heimat»? «Heimaten» klingt zugegebenermaßen sehr eigen­­artig, vielleicht sollte man ein ganz neues Wort dafür erfinden. Aber welches? «Seelenorte» fällt mir ein, und im Hintergrund kichert der Kitsch. Aber ich könnte mich mit dem Begriff «Seelen­ort» sehr anfreunden.
Hier, an der Schlei, habe ich diesen Ort gefunden, hier hat die Landschaft weiche, sanfte Arme, die einen umfangen und wiegen und Trost und Ruhe und Frieden schenken. Und auch Einsamkeit. Ein Zurückgeworfenwerden auf sich selbst, auf die Schatten, die manchmal das Herz, den Verstand verdunkeln. Schleinebel breiten sich dann an manchen Tagen, das Licht verhüllend, klamm und wabernd draußen und drinnen aus. Aber ich wäre keine Schrift­stellerin, würde nicht auch dieser Zustand die Wörter und Bilder auflockern, die tief in mir gründeln und auch dunkel und schlammig sein dürfen. – Die Landschaft um die Schlei nimmt mich in sich auf, sodass ich meine, Wurzeln zu bilden, ein Geflecht aus Knospen, Blättern, vielleicht auch Blüten und Früchten zu be­kommen. Vielleicht aber bin ich ein biegsames, flüsterndes Schilf­rohr oder eine dieser pelzigen Disteln – widerstandsfähig, unauf­fällig. Mir wäre das recht. Alles davon.
Bei jeder Ankunft habe ich das intensive Gefühl, dies alles schon lange zu kennen. Und das Gefühl des Erkanntwerdens: meine Farben, meine Düsternis, meine Ungeheuer und meine Feen. Dabei bin ich hier aus ganz anderen Gründen «gestrandet» – es sollte ein Pflichtbesuch werden, und meine Suche nach einem Quartier ergab rein zufällig, dass ich in einer kleinen zauberhaften Holzhütte bei einer alten Bekannten aus dem Ruhrgebiet landete. Und nun den Norden entdeckte. Und seine Fruchtbarkeit für mein Schreiben, meinen Ruheort für meine Unruhe, meinen immer vermissten Ort der Geborgenheit. Der dazu in greifbarer Nähe lag, was sind da schon knappe 500 Kilometer? Sie sind ein Möwenpup. Hier, in der gefundenen, geschenkten, zweiten Heimat schrieb ich das Buch Kotzmotz der Zauberer, das mich zu einer Schriftstellerin machte.

Ich fühlte mich eigentlich immer als Schriftstellerin, aber nun war ich es tatsächlich, über hin und wieder veröffentlichte Gedichte, jede Menge Kindertheaterstücke und einen Literaturpreis für eine Kurzgeschichte hinaus, endlich mit einem richtigen Buch ge­worden. Das sogar gelesen wurde. Das ruckzuck in weitere Auflagen ging. Und ich begann, hier einen zweiten, festen Wohnsitz zu suchen, um weitere Bücher zu schreiben. Das Ausgebreitete, Empfängliche dieser Landschaft würde mir dabei helfen, mich in mir selber auszubreiten, für meine Schöpfungskraft empfänglich zu werden.
Und ja: Meine Zufälle waren weiterhin treu an meiner Seite. Erst wohnte ich in einem roten Pippi-Lotta-Häuschen in Schlei­nähe in den Feldern, umringt von Hühnern, Schafen, Ziegen, Enten, Hund, Katz und liebenswerten Menschen. Nun wohne ich direkt an der Schlei. Sie hat es geschafft, ihre Wasserarme bis zu mir auszustrecken, und ich bin ihr ans Herz geschwommen. Ja, ja, ich weiß, auch hier winkt der Kitsch, aber mein Kinderherz liebt Kitsch über alles. Und ich bin Aszendent Krebs, der will ans Wasser.
Nun schaue ich seit vier Jahren auf der einen Seite meiner kleinen Wohnung direkt auf die Schlei, zur anderen Seite im Mai in ein blühendes Rapsfeld, in dem eine Million Bienen laut ein OM summen und der Duft der gelben Blüten berauschend ist. In den ersten Jahren bin ich wie wild durch die Gegend gefahren, habe die Schleiufer, die kleinen Dörfer erkundet, bin abends noch schnell ins Auto gestürzt, um den Sonnenuntergang direkt über der Schlei zu erleben.
«Er-leben», welch schönes Wort. Heute ziehe ich schnell die Schuhe an, trete aus der Haustür, und der Abendhimmel überfällt mich mit seinen quellenden Farben. Ach, überhaupt, der Himmel – er ist hier so gewaltig, dass man sich immerzu im Kreis drehen möchte, jubelnd, auch bei Wolken, die wie schwere Kartoffelsäcke am Himmel hängen. Ja, das kindliche Kreiseln, Kreiseln, Kreiseln, bis das Herz am Rande des Himmels klebt. Und nachts. Nicht zu fassen die Anzahl der pflückreifen Sterne, die demütig machen. Überhaupt werde ich hier oft wieder zu einem Kind. Mit kindlicher Freude. Mit kindlichem Staunen über die kleinen und großen Wunderdinge um mich herum. Und endlich ohne meine damalige Furcht vor dem Alltagsgeschehen, dem Nichtrichtigsein. Hier fühle ich mich richtig – und am richtigen Ort, egal ob ich gerade geblümt oder kleinkariert bin. Das alles lässt eine große Dankbarkeit wachsen.

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Fotos: © Christian Kaiser (www.kaiser-photography.de) Durch die Bildgalerie geht's per Klick auf die Klammern

Hier ist mein Schreibparadies. Die mysteriöse blaue Blume, die Dichterinnen und Dichter seit Novalis alle suchen, wächst hier üppig und wild an jedem Feldrand: Kornblume und Wegwarte. Und so versuche auch ich hin und wieder Gedichte. Aber, da die Landschaft hier selber so stark lyrisch ist, kann ich mit meinen Worten kaum etwas dazusetzen. Doch in einem alten Notizheft aus meinen ersten Schleiwochen finde ich ein paar Zeilen von mir, und ich erinnere mich noch sehr genau an den Schreibanlass:

He, ferner HerzflimmerMann
kleb dir die Flügel an
flieg etwas näher ran,
dass ich dich sehen kann
in den schaukelnden
schaukelnden
schaukelnden Zweigen
glückliche Tiger in meinen Augen
glückliche Tiger in meinen Augen.


Na ja, es war Vollmond gewesen, so unglaublich orange und magisch, dass ich fast durchgeknallt bin. Und die glücklichen Tiger räkelten sich bis hinauf zum Mann im Mond, der in den Ästen der Weide hing. Sein keckes Grinsen machte mich fast närrisch.

«Ich will in das Grenzenlose in mir zurück», schreibt Else Lasker-Schüler in einem Gedicht, und ich kann mir vorstellen, dass sie es hier vielleicht gekonnt hätte.
Auch gibt es in dieser Schleiregion allerhand Seltsamkeiten, die ihr bestimmt gefallen hätten. Vor Jahren fand man zauberhafte Kornkreise gleich um die Ecke in einem Feld, im Schloss Louisenlund versuchte sich der geheimnisvolle Saint Germain in Alchemie, und die Freimaurer tagten dort. Und gerade heute haben zwei Wildschweine die Hafenpromenade von Eckernförde leergefegt, bevor sie im Galopp von der Hafenspitze ins Wasser sprangen. Weg waren sie. Wildschweine sind tierisch gute Schwimmer.
Oft sitze ich auf einer Bank am Schleiufer, träume mich ins Lichtgeflirr und vergesse die Zeit. Aber mit meinen Freundinnen, die mich ab und zu besuchen, erkunde ich in langen Spaziergängen die verwunschenen Pfade entlang des Wassers und entdecke Märchenfiguren in den knorrigen Wurzeln der alten Bäume oder in den buckeligen Körpern der Ufersteine. Hoch über der Schlei ist mein geheimer Zauberort, eine Feenwiese unter hohen, lichten Bäumen, in der es nur so wimmelt von glockenblumenläutenden Wichteln und schwirrenden Elfen. Manchmal liege ich dort, alle viere weggestreckt im weichen Moos wie ein vertaumelter Maikäfer auf dem Rücken und verliere mich in dem Gegurgel des Wassers und dem tanzenden Grüngold der Sonnenflecken.
Lange habe ich geglaubt, die Schlei sei ein Fluss, vor meinem Fenster sieht es danach aus, aber ich musste mich belehren lassen. Sie ist ein langer Arm der Ostsee, der von der Schleimündung bei Maasholm bis nach Schleswig reicht und diese Landschaft in Angeln und Schwansen teilt.
Der bekannte Kappelner Heimatdichter Ludwig Hinrichsen hat sie immer wieder in seinen Gedichten beschrieben:

Seltsames Gewässer
Du bist kein Strom, kein erdgenährter Fluss; …
… Du bist die Meerestochter selbst
von Götterlaune ausgespielt ins Land …

Ich hätte ja eher Göttinen gewählt, aber die Meerestochter gefällt mir gut. Ja. Die Schlei. Sie ist ganz sicher weiblich mit ihren sanften Rundungen, ihren fruchtbaren Feldern, ihrem Liebreiz und ihren Gewändern aus milchiger Nebelseide. Eine Freundin ist sie mir geworden, deren Macken ich ebenso mag wie ihre Schönheit. Wie oft trat sie schon über die Ufer, mehrmals riss sie kleine Halbinseln zurück ins Wasser, immer wieder versandete ihre Öffnung zur Ostsee. 1928 war der Winter so hart, dass die Häuser hinter riesigen Eismauern verschwanden. Auch ihre Geschichte ist turbulent. Da waren die Wikinger, die sie als eine Möglichkeit für den Handel entdeckten und den Ort Haithabu bei Schleswig gründeten; es gab die Dänen, die immer wieder nach der Schlei griffen. Auch für Fürsten, Kirchenmänner, Handels- und Fischersleute war sie stets von großer Bedeutung gewesen. Heute ist sie ein beliebtes Erholungsziel mit ihren kleinen lebhaften Städten, den malerischen Dörfern mit urigen Kneipen, den Land­gasthöfen mit den unglaublichsten Torten und verwunschenen Gärten, mit den kleinen Häfen und Buchten, die Segelschiffe immer gerne ansteuern, mit Hafenfesten und Heringstagen, mit Raps und Heckenrosen, mit heftigen Sturmböen unter einem wilden Himmel. Und über allem immer wieder die schwebenden Möwen, das heisere Gebell der südwärts ziehenden Gänse, mein Schleikuckuck, der den frühen Morgen benotet, bevor ich den ersten Kaffee auf meinem selbst gestalteten Königinnenstuhl, der nach Wikingerart nur aus zwei zusammengeschobenen langen Brettern besteht, zu mir nehme. An der bunten Krone mit Muscheln und funkelnden Steinen am Ende der Lehne habe ich lange gewerkelt – wenn schon, denn schon!
Oft denke ich, besonders im Winter, den ich hier mehrmals sechs dunkle Wochen am Stück verbrachte, weil ich mein dickstes Buch überarbeiten musste, dass sich die Zeit nach IrgendwoNirgendwo zurückzieht, woanders verweilt. Sie ist wie Honig, zäh, dickflüssig, und im Winter nicht unbedingt süß, manchmal eher bitter. Da kann die Dunkelheit und das Alleinsein schon mal dazu führen, dass man sich selber fremd wird. Und ich zum ersten Mal in meinem Leben den «Hüttenkoller» bekam. Als die unendliche Überarbeitung endlich geschafft war, packte ich blitzschnell die Koffer, und wollte nichts wie fort ins Ruhrgebiet, obwohl ich noch eine Woche hätte bleiben können.
Das hat mir klargemacht, dass ich beides brauche: dieses Schlei­paradies und den quirligen Ruhrpott mit meinen Freundinnen und Freunden, überhaupt mit seinen herzerfrischend wahrhaf­-tigen Menschen, das pralle Kulturangebot an allen Ecken und Kanten und den vertrauten Orten, die meine Kindheit prägten und mein oft wildes, oft verzagtes Abenteuerleben mit meinem Kindertheater.
So habe ich nun beides. Zwei Seelenorte. Was ich fast nicht glauben kann. Dann kneife ich mich. Das tue ich jedes Mal, wenn ich von der A7 abbiege und durch die Felder Richtung Eckern­förde fahre. Noch auf der Landstraße auf dem Weg in mein Paradies verschlinge ich hin und wieder mit heftigstem Genuss am Fisch­stand das beste Matjesbrötchen aller Zeiten. Nirgendwo schmecken sie besser als hier.