Rolf Bauerdick (Text & Fotos)

Albanien Land der zwei Gesichter

Nr 194 | Februar 2016

Ein unscheinbares Haus in einer unscheinbaren Straße im nord-albanischen Shkodra. Ich klopfe an der Tür, unangemeldet. Pjerin Sheldija öffnet. Im Jackett, frisch rasiert und mit korrekt gebundener Krawatte vermittelt er den Eindruck eines Mannes, dem jede Nachlässigkeit suspekt ist. Höflich bittet der 77-Jährige in sein Wohnatelier, bereitet Mokka zu, serviert Napfkuchen und gezuckertes Rosenwasser und entschuldigt sich vielmals, seinen Gast nicht gebührend bewirten zu können. Seine Frau sei außer Haus. Dann gewährt Sheldija Einblicke in sein Leben. Auf drei Stockwerken türmt sich die Bilanz seines unermüdlichen Schaffens als Piktori, als Maler. Ein überquellender Fundus an Bildern erzählt von den Höhen und Abgründen einer widersprüchlichen Künstlerexistenz. Mehr noch. Sheldijas opulentes Werk spiegelt nicht nur seine eigene, sondern auch die Geschichte seiner zerrissenen Heimat wider. Zwar wurde die Sozialistische Volksrepublik Albanien vor 25 Jahren auf der Müllhalde der Geschichte entsorgt, erholt hat sich das Land vom kommunistischen Menschenversuch jedoch bis heute nicht.
Pjerin Sheldijas Bilder aus der Zeit der Diktatur zeigen eine groteske Scheinwelt. «Ich weiß das», sagt er. «Und ich schäme mich dafür.» Den strikten Vorgaben des Sozialistischen Realismus gehorchend, brachte Sheldija auf die Leinwand, was die Zensoren der Partei von den Künstlern verlangten. «Das Land verwelkte, doch auf unseren Bildern hatte alles zu blühen – die Landwirtschaft, die Industrie und die Menschen. Wohlgenährt und kräftig mussten sie sein, siegreich und strahlend vor Dankbarkeit gegenüber der politischen Führung.» Als ein Freund statt den Helden der Arbeiterklasse selbstbewusste Bergbauern porträtiert hatte und dafür zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit in einem Straflager verurteilt wurde, beugte sich Sheldija dem Meinungsterror.

Der Grund war so schlicht wie verständlich: «Ich war Vater von drei Kindern und fürchtete die Gefängnisse.» Der Preis für die erzwungene Staatstreue indes war hoch: «Ich habe gelebt, ohne lebendig zu sein. Ständig fühlte ich mich deprimiert, ohne jede Inspiration und habe kaum in den Spiegel schauen mögen. Die Angst und das Misstrauen haben uns alle zerstört.»
Als die Volksrepublik 1990 nach 45 Jahren unterging, hatten die Despoten Enver Hoxha und Ramiz Alia das Land ruiniert, die Menschen verbraucht und die Seelen verwüstet. In einem paranoiden Bedrohungswahn sah sich Albanien von kapitalisti-schen Feinden umzingelt und von sozialistischen Brüdern ver-raten. Im Bruch mit allen Verbündeten, von Titos Jugoslawien über die Sowjetunion bis China, hatte Hoxha Albanien außen­politisch in die Isolation getrieben. Im Inneren hingegen eta­blierte er mit seiner Geheimpolizei ein System aus Furcht und Terror, das für seine aggressive Religionsfeindlichkeit berüchtigt war. 1967 proklamierte Albanien, «den ersten atheistischen Staat der Welt». Christliche Schulen wurden geschlossen, Kirchen und Moscheen zu Sportstätten und Lagerhallen entweiht. Religion galt laut Regierungsdekret als «Gift, das die revolutionären Aktivitäten der Massen lähmt». An den Folgen der religiösen Entgiftung und Gottesaustreibung tragen die Menschen bis heute. In keinem Land Europas liegen Fatalismus und Freiheitsliebe, Gewissenlosigkeit und Großmut, Engstirnigkeit und Weitherzigkeit so dicht beieinander wie in dem Balkanstaat, dessen Nationalflagge der Mentalität seiner Menschen entspricht: doppelköpfig – wie der schwarze Adler auf rotem Grund.
Knapp drei Millionen Einwohner zählt Albanien heute. Weit mehr als eine Million Shkiptaren haben das Land verlassen in Richtung Europäische Union und Amerika. Zugleich wurden Hunderte von entlegenen Dörfern in den nordalbanischen Alpen entvölkert. Mal mehr, mal weniger. Wo die Größe der Weiler nur noch nach der Zahl der brennenden Kamine berechnet wird, schwärmt jeder von der reinen Luft und dem frischen Quellwasser. Jeder rühmt das Gemüse und das Olivenöl. Und natürlich ist der Wein köstlicher, der Ziegenkäse schmackhafter und hausgebrannter Raki tausendmal gesundheitsfördernder als der Indus­triefusel aus der Stadt. Nur folgt dem Lobpreis auf die Heimat stets der kummervolle Seufzer, von ein paar Kühen und Schafen könne niemand mehr leben.

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Fotos: © Rolf Bauerdick | www.rolfbauerdick.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Ausgelöst wurde der Niedergang durch die kinderreichen und verarmten Familien. Sie zogen zuerst fort. Dann schlossen die Spitäler, die Apotheken und Ambulanzen, irgendwann gaben die Lebensmittelläden auf, die Dorfschulen verwaisten, der Busdienst stellte den Betrieb ein und zurück blieben die Schwachen, die Kranken und die Alten in ihren schwarzen Trachten mit ihren Maultieren und Eselskarren. Währenddessen verdreifachte sich die Zahl der Einwohner im Ballungsraum der Metropole Tirana in nur zwei Jahrzehnten auf 800.000. An den Rändern der Städte sind die Folgen der Landflucht unübersehbar. In wildwuchernden Siedlungen schießen die nackten Rohbauten in den Himmel wie die allgegenwärtigen Betonpilzköpfe; alberne Minibunker, mit denen Enver Hoxha dem Imperialismus zu trotzen gedachte.
Die Gemeinde mit dem klingenden Namen Porto Romano ist auf keiner Landkarte verzeichnet. In dem Niemandsland unweit der Müllhalde der Küstenstadt Durres siedelten sich fünfzig Familien aus dem Bergdorf Dhardha an. Darunter die Familie Aliaj. Was sie an den wenig attraktiven Ort verschlagen hat? «Money, money!» Die Hausherrin Dushe reibt Daumen und Zeigefinger. «In Tirana und Shkodra ist das Bauland zu teuer.» Und hier? «Hier gehört das Land dem Staat.» Will sagen: Es gehört niemanden. Was heißt: Es gehört dem, der es besetzt. Die Zahl der in Albanien illegal auf staatlichem Terrain erbauten Häuser wird auf 500.000 geschätzt.
Zwei Töchter und der jüngste Sohn der Familie haben in Durres gefunden, was in Dhardha so schmerzlich vermisst wird: Arbeit. Knapp zweihundert Euro verdienen sie in einer Textil­fabrik und als Kellner in einem Café. «Aber mir fehlen die Berge», sagt Leze Aliaj. «Die Sommer sind wunderbar. Nur die Winter hält man nicht aus. Die Kälte, der brusttiefe Schnee. Von Dezember bis April ist man von der Welt abgeschnitten. Da geht nichts mehr.»

Von einst dreihundert Schornsteinen rauchen in Dhardha noch siebzig. Ihr Heimweh nahmen die Migranten mit in die Stadt, allerdings ließen sie die vielleicht wichtigste Regel des Zusammenlebens im Gebirge zurück: das Gesetz. «Das Gemeinwohl geht über das Wohl des Einzelnen» gilt im urbanen Milieu nicht mehr. Niemand weiß das besser als Pater Ivan Attard, der Pfarrer von Porto Romano.
Als «emotional und liebenswürdig, aber auch unverschämt direkt» beschreibt der Dominikaner die Menschen in seiner Gemeinde, die sich «mit den zivilisatorischen Gepflogenheiten der Städter etwas schwer tun.» An die derben Flüche und das unflätige Geschimpfe hat sich der Pater ebenso gewöhnt wie an den Umstand, dass ihm die Frauen während der Messfeiern ins Wort fallen, wenn ihnen die Predigt nicht passt. Gottlob ist Attard mit Humor gesegnet.
«Mit den Leuten lachen zu können, ist schon sehr hilfreich.» Allerdings hört der Spaß für ihn auf, wenn es um den Gemeinschaftssinn geht. Genauer gesagt, um den Mangel an selbigem. «Viele Familien wünschen, dass man sie unterstützt. Nur sind sie oftmals nicht bereit, sich untereinander zu helfen.» Der Pater redet nicht so, um seine Leute zu diffamieren. Er will sie verstehen. «Früher folgten sie den Gesetzen der Großfamilie, dann gehorchten sie der Tyrannei, nun meinen sie, der Staat habe ihr Leben zu regeln.» Also fordert er von seiner Gemeinde eine radikale Änderung des Denkens. «Der Kommunismus hat die Menschen erniedrigt und ihren Gemeinsinn zerstört. Im Kapitalismus ist sich jeder selbst der nächste. Was wir brauchen, ist eine Kultur der Verantwortung, in der einer dem anderen hilft.»
In keiner Diktatur in Europa wurden Glaube und Gemeinschaft derart bis auf die Wurzeln ausgerottet wie im sozialistischen Albanien. Zwischen fünf- und sechstausend Menschen, darunter viele Geistliche, wurden hingerichtet, Hunderttausende wurden eingesperrt und gefoltert. Selbst auf den Besitz eines Kruzifixes oder Rosenkranzes stand die Todesstrafe. Die Saat der Furcht ging auf. Bis heute wirkt der geistliche Kahlschlag nach. Zwar bekannten sich in einer Volkszählung 2011 nur noch 2,5 Prozent der überwiegend muslimischen und christlichen Albaner zum Atheismus, aber was heißt das schon? Da in den Schulen weder Religion noch Ethik unterrichtet werden, so Ivan Attard, haben die meisten noch nie etwas von den «Zehn Geboten» oder der «Berg­predigt» gehört.

Es wundert nicht, dass mit dem spirituellen Vakuum ein archaisches Wertesystem erstarkte, das sich auf die Prinzipien des Blutes und der Ehre beruft. Jahrhundertelang wurde der soziale Zusammenhalt in den Schluchten des Balkans durch die Loyalität unter Blutsverwandten und den Sittenkodex eines patriarchalischen Ehrbewusstseins gestiftet. Überliefert sind diese Grundsätze im sogenannten Kanun, ein 600 Jahre altes Gesetzeswerk, das auf den Fürsten Lek Dukajini zurückgeht. Der Kanun war mächtig, und er ist es wieder. Machtvoller als der Einzelne, die Familie, der Clan. Vom desolaten Staat erst gar nicht zu reden.
Getreu den 1.300 Paragrafen des Kanun wurden Erbstreiter­eien geschlichtet, Grenzkonflikte geregelt und Brautsteuern fest-gelegt. Auch die legendäre albanische Gastfreundschaft hat darin ihre Wurzeln: «Das Haus des Albaners gehört Gott und dem Freund.» Für Verstöße gegen das Gastrecht gab es einen Katalog an Strafen, genauso wie bei Ehebruch, Viehdiebstahl, Meineid oder Raub, wobei die Verletzung der Ehre als schändlichster aller Frevel galt. Geraubt wird die Ehre, indem man einen Mann öffentlich der Lüge bezichtigt, ihn bespuckt oder schlägt, ihn hintergeht oder seine Frau begehrt. Bei einem Mord, so heißt es, kann nur das Blut eines Mannes aus der Sippe des Täters die verlorene Ehre wiederherstellen. Mit der Kugel. «Gott gab uns zwei Fingerbreit Ehre mitten auf die Stirn», sagt der Kanun.
Doch was einst als honoriger Akt zur Wiederherstellung männlichen Stolzes gedacht war, ist zur Rechtfertigung familiärer Blutrachefehden und zum Krieg unter Kriminellen verkommen. 9.000 Opfer hat die Blutrache in den letzten 25 Jahren gefordert. Jeder vermeintliche Ehrenmord fügt dem Kreislauf des Tötens nur neue Kreisläufe hinzu.

Wege heraus aus dem Wahn der Gewalt, Heilmittel, um die offenen Wunden der albanischen Geschichte zu kurieren, sucht der Piktori Pjerin Sheldija in den Bildern, die seinem zweiten Künstlerleben entstammen. Als wolle er eine Schuld gegenüber sich selbst abtragen, malt er heute Motive, für die man ihn früher exekutiert hätte. Auf monumentalen Wandszenarien vorzugsweise in Kirchen mahnt er eine Kultur der Vergebung, der Versöhnung und der Gemeinschaft an. Gewiss ließe sich anmerken, Sheldija bleibe einer traditionellen Bildsprache verhaftet und suche Orientierung in der Vergangenheit. Doch aus all seinen Porträts der Heroen des albanischen Unabhängigkeitskampfes, aus all den opulenten Fresken von christlichen und muslimischen Märtyrern, die ihr Leben für ihren Glauben ließen, spricht die Sehnsucht, einem einst so stolzen Volk das Gespür für jene Würde zurückzugeben, das die Tyrannei ihm austrieb.
Im postsozialistischen Albanien, in dem jeder ein Opfer der Diktatur gewesen sein will und niemand ihr Handlanger, fällt der alte Maler als redlicher Charakter auf, der sich um seine Vergangenheit nicht herumlügt. Sheldija hat sich seiner Geschichte gestellt, mit einem klaren Bekenntnis zu seinen Fehlern. «Ich fühle mich dankbar und privilegiert, heute malen zu dürfen, was ich will.» Sein Lohn für ungezählte Bilder in Kirchen, Klöstern und Kapellen mutet sehr bescheiden an: Farben, ein Bett zum Ruhen, genug zu Essen und das gute Gefühl, «gegen die Lügen der Geschichte anzumalen.»