Rund steht der Mond an diesem frühen Morgen noch am Himmel, zwischen den Kronen hoher Buchen schwebt er über dem Rand des Deggenhauser Tals. Bald wird in der Ferne gegenüber die Sonne auftauchen und zwischen den Hochnebeln hindurch einen ersten Blick in den silbernen Spiegel des Bodensees werfen.
Irgendwo zwischen Sonne und Mond, ungefähr zwanzig Kilometer vom See nach Norden ins Land schmiegt sich der Lehenhof an einen Hang. Seine Gebäude verteilen sich in einem Halbrund, das sich nach Süden hin in die Weite der Landschaft öffnet, wo bei gutem Wetter hinter dem See die Alpen sichtbar werden. «Einen Kirchturm haben wir hier nicht, aber der Säntis steht dann praktisch in unserer Dorfmitte», meint Albrecht Römer mit einem Lächeln. Der 61-Jährige ist tief vertraut mit dem Hof und der Landschaft ringsum. 1975 kam er als Zivildienstleistender, ein paar Jahre später fing er hier als Landwirt an. Er blieb mit seiner Frau, seine Kinder wuchsen hier auf. Der Hof hat ihn geprägt. Und umgekehrt.
Mit ruhiger Stimme erzählt Römer über die Entwicklung vom alten, verlassenen Hofgut hin zu einem florierenden Betrieb mit einer lebendigen Gemeinschaft. Wer mit ihm die Runde macht, bekommt einen guten Blick auf das Geflecht des Lehenhofs, mit seinen Ställen, Feldern, Weiden, Hausgemeinschaften, Werkstätten, Therapieräumen, einer Gärtnerei, Käserei, Bäckerei, dem Festsaal und einem Hofladen.
Der Lehenhof ist kein normaler Hof. Nicht nur, weil er mit seinen vielseitigen Einrichtungen weit über einen landwirtschaftlichen Betrieb hinausgeht, sondern auch – und vor allem –, weil hier die Trennung von «normal» und «nicht normal» nicht vorkommt.
Menschen mit den verschiedensten Schicksalen, Begabungen und Behinderungen leben und arbeiten hier in einem intensiven Miteinander. Und so ist man sich vielleicht mehr als anderswo der einfachen Wahrheit bewusst, die Richard von Weizsäcker einmal auf die Formel brachte: «Es ist normal, verschieden zu sein.»
In all dieser Verschiedenheit – jeder Mensch ein Ich. «Die Überzeugung, dass jeder Mensch dieses ‹Ich› in sich trägt und dass dieses ‹Ich› ewig, unzerstörbar und von geistiger Natur ist, ist grundlegend für unsere Einstellung jedem Kind gegenüber. Es ist unser Bruder und unsere Schwester. Es ist uns und jedem anderen Menschen ebenbürtig. Wir haben es nicht zu tun mit dem ‹behinderten Kind›, wir haben es zu tun mit dem Kind, das behindert ist.» So formulierte der Wiener Arzt Karl König eine Grundhaltung der von Rudolf Steiner inspirierten und von ihm vertieften Heilpädagogik, aus der heraus auch der Lehenhof entstanden ist. 1927 begegnet König während seiner Arbeit an einer Schweizer Klinik zum ersten Mal Kindern mit Behinderung. Für eine Feier schmücken sie ein Adventsgärtchen mit Kerzen. Der Ernst und die Freude, mit der sie sich trotz ihrer Behinderung dieser Aufgabe widmen, hinterlässt bei dem damals 25-Jährigen einen so tiefen Eindruck, dass er später schreibt: «Seither sind diese Menschen zum Siegel meiner Existenz geworden.»
Blickt man heute, 50 Jahre nach Königs Tod, auf sein Lebenswerk, liegt in dieser Aussage weder Pathos noch Übertreibung. Die Aufgabe, mit der er seine Existenz verknüpft, strahlt in die ganze Welt aus. Einen Grundstein dafür legt er mit einer Gruppe Wiener Weggefährten 1940 in Schottland. Dorthin verschlägt es den Sohn jüdischer Eltern, nachdem er 1938 vor den Nazis fliehen musste. Auch die anderen sind geflohen – und nach dem Verlust von Beruf und Heimat auf der Suche nach einer neuen Bestimmung. Vom Willen getragen, der kriegsüberschatteten Welt in aller Stille ein menschliches Licht entgegenzuhalten, beginnen sie in Camphill, einem Anwesen in der Nähe von Aberdeen, eine Gemeinschaft aufzubauen, die seelenpflege-bedürftige Kinder in ihrer Mitte aufnimmt. Sie wohnen, leben und arbeiten mit ihren Familien und den betreuten Kindern unter einem Dach, um diesen die heilsame Hülle einer intakten Gemeinschaft zu schenken und sie im persönlichen Miteinander zu fördern. Auch die Betreuenden werden durch die Kinder in ihren Persönlichkeiten gefördert und gefordert. Sich für dieses Geben und Bekommen offenzuhalten, macht einen wesentlichen Teil ihrer Einstellung aus – führt sie an Grenzen, aber auch zu großer Bereicherung.
Mehr und mehr finden die alternativen heilpädagogischen Herangehensweisen Anklang, mehr und mehr Eltern vertrauen der Gemeinschaft ihre Kinder an. Die zunächst kleine und unter prekären Umständen wirtschaftende Camphill-Community wächst und wird zum Vorbild für weitere Gründungen. Mittlerweile sind es über 100 Einrichtungen auf der ganzen Welt mit unterschiedlichen Ausprägungen und Schwerpunkten. Neben Wohn- und Schulgemeinschaften für Kinder existieren Einrichtungen für Jugendliche und Erwachsene. Eine solche ist auch der Lehenhof, den Karl König mit einer Gruppe junger Menschen 1964 begründet. Die Bodenseeregion ist schon damals ein Zentrum der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, deren Aspekte König mit der Heilpädagogik zusammenführt: Aus dem achtsamen Umgang mit der Natur und der achtsamen Begegnung mit dem Menschen erwächst eine ganzheitliche Dorfgemeinschaft.
Anfangs waren es sieben Mitarbeiter und fünfzehn Erwachsene mit Behinderung. Heute wohnen und arbeiten über 300 Menschen hier.
Aus dem Kamin der hofeigenen Bäckerei quellen weiße Wolken in die morgenfrische Luft und verbreiten den Duft von frischem Brot. Fast niemand ist auf den Wegen zu sehen, nur ein paar Katzen streifen umher. Dafür wird es im Inneren der Häuser lebendig. Im Hilda-Heinemann-Haus, einer der insgesamt fünfzehn Hausgemeinschaften, versammeln sich die Bewohner zum Morgenkreis. Nach und nach trudeln sie ein und nehmen im Wohnzimmer Platz. Andrea hält ein Büchlein vor sich, aus dem sie gleich einen Tagesspruch verlesen wird. Erst wird gesungen, dann hat sie ihren kleinen Auftritt. Anschließend verkündet Florian die genaue Uhrzeit von Sonnenauf- und -untergang für den heutigen Tag. Fe, die Hausverantwortliche, erkundigt sich bei jedem, ob er gut geschlafen hat, fast alle antworten mit einem «Ja». Dann fassen sie sich an den Händen und begrüßen den Tag mit einem kräftigen «Guten Morgen». Zeit fürs Frühstück. Brot und Käse kommen direkt vom Hof. Zusammen sitzen sie um den großen Holztisch: Fe und Jürgen, die das Haus leiten, Sarah, die Auszubildende, Johanna, die hier für ein paar Monate arbeitet, und zehn «Dörfler», wie Fe sie nennt.
Mal schüchtern, mal selbstbewusst stellen sich die Dörfler dem Besuch vor. Die einen knapp, die anderen sehr ausführlich, die einen laut, die anderen leise, verträumt, nuschelnd oder polternd. Wer nichts sagen mag oder kann, für den sprechen Fe und Jürgen. In der Art, wie sie es tun, schwingen Wärme und Respekt mit, die erleben lassen, was Karl Königs Sätze vom «Ich des anderen» meinen. Adelheit ist mit ihren 73 Jahren die Älteste am Tisch, seit 41 Jahren lebt sie auf dem Lehenhof. Florian ist mit 35 der Jüngste. Nach dem Frühstück geht es an die Arbeit. Florian läuft in die Gärtnerei, Michael und Dorothee in die Weberei, Ilse wird heute Vormittag im Haushalt helfen. Volker und Andrea nehmen den Bus zu den Werkstätten im Tal.
Für die Firma Sonett werden dort Produkte verpackt und etikettiert. Der Pionier im Bereich ökologischer Wasch- und Reinigungsmittel arbeitet seit zwanzig Jahren mit dem Lehenhof zusammen und exportiert seine Produkte weltweit. Konzentriert und passgenau klebt Andrea finnische Etiketten auf Calendula-Seifenspender. Nebenan in der Papierwerkstatt sitzen Sarah (26), Jana (24), Beate (36) und Anne (24) um einen großen Tisch und falzen Blätter, die später zu Schulheften gebunden werden. «Willst du uns vielleicht interviewen?», ruft es in die arbeitsame Stille. Schnell kreist das Thema um die Jungs, in die sie verliebt sind – und ein freudiges Kichern liegt über dem Tisch. Dann widmen sie sich wieder ganz ihrer Arbeit. Göran Wörner-Schmid leitet die Werkstatt. Tagtäglich beobachtet er, wie sich die, die hierher kommen, bei der Arbeit sammeln, ruhig und vielleicht sogar glücklich werden. Auch er setzt sich manchmal einfach an einen der Werktische und genießt die meditative Wirkung der gleichmäßigen Handarbeit.
Während alle bei der Arbeit sind, ist es ein bisschen ruhiger im Hilda-Heinemann-Haus. Fe wohnt hier seit vier Jahren mit ihrer Familie und den Betreuten. Seit gut zwanzig Jahren arbeitet sie als Heilerziehungspflegerin. Sie kennt das Leben außerhalb und innerhalb von Camphill-Gemeinschaften, aber das Leben mittendrin ist für sie das schönste und praktischste. «Es ist ein wunderbares Leben», sagt sie, «auch weil es ein echtes Leben ist, ein ehrliches, ein Leben ohne Masken. Die Dörfler sind in ihren Emotionen sehr wahrhaftig. Das kann anstrengend sein, aber vor allem auch sehr erfrischend.» Dass ihre eigenen Kinder hier im Haus aufwachsen, zeigt ihnen, «dass die Welt bunt ist. Sie lernen eine Welt abseits von Leistungsdenken, Schönheitswahn und Perfektionismus kennen.» So erlebt es auch Heimleiter Stefan Siegel-Holz. Er ist jetzt 32 Jahre lang auf dem Lehenhof, hat wie Albrecht Römer als Zivi hier angefangen und dann 25 Jahre lang eine Hausgemeinschaft geführt. «Wer mit dem Lehenhof zu tun hat, macht immer wieder die wunderbare Erfahrung, dass ihm unverstellte, offene, direkte Persönlichkeiten begegnen. Wo sonst hält einem ein Erwachsener strahlend die Hand entgegen und erklärt: ‹Ich habe heute Geburtstag›.»
Es sind Situationen wie diese, die den Alltag hier mit Poesie und Leben fluten. Jeder Mitarbeiter könnte dutzende solcher fröhlichen, rührenden, lustigen und bewegenden Momente aufzählen. Mit ihrer unmittelbaren Art, mit ihrem eigenen Rhythmus, ihren individuellen Logiken und weil sie mehr als andere auf Hilfe angewiesen sind, liegt in der Begegnung mit den Lehenhofbewohnern auch immer ein Erinnern an Fähigkeiten, die in einer rationalen und durchtechnisierten Welt mehr und mehr ins Vergessen geraten: Unmittelbarkeit, Geduld, Fantasie, Mitgefühl und der Blick durch die Oberfläche sind nur ein paar der vielen Seelenschätze, die an diesem guten Ort, irgendwo zwischen Mond und Sonne, gefunden werden können.