Die Sonne brennt unerbittlich auf den Hafen von Georgetown, Bermuda. Eine Gruppe von Leuten steht am Quai um eine schwarze Transportkiste und schwitzt unter den Sonnenhüten. Ein junger Mann mit einem Safarihut tritt vor und macht sich daran, die Kiste zu öffnen. Er sieht sehr jung aus, hat weiche Züge im Gesicht, dünne Arme und blasse Haut. Er scheint zu wissen, was er tut. Zusammen mit einem sportlichen Italiener bringt er ein paar große Aluminium-Träger zum Vorschein, solche Traversen, die verwindungssteif sind und sich zusammenstecken lassen. Der junge Mann gibt Anweisungen an die Umstehenden, die ratlos dreinschauen und offenbar nicht wissen, wo sie zupacken sollen.
Dann müssen sie es eben alleine angehen – er und der sportliche Italiener, auch wenn es heiß ist, und der einzige Schatten von der Krempe ihrer Hüte kommt. Es ist keine Zeit für Siesta, sie machen sich an die Arbeit.
In einer Stunde werden sie das Kreuz fertig haben, ein lebensgroßes Kreuz aus Alu-Traversen. Es wird aussehen wie das Bühnenbild einer modernen Interpretation der Golgatha-Szene. An seinen Enden werden Taue und Umlenkrollen angebracht werden, Trichter mit feinen Netzen und noch mehr Leinen. Es wird an Deck einer Segelyacht gehievt werden – diesmal mithilfe der ächzenden Sonnenhut-Leute –, auf dem Vordeck vertäut und auf den Atlantik hinaus geschippert werden. Zweimal täglich wird es am Spinnaker-Baum hängend aufgerichtet und langsam zu Wasser gelassen, und ein kompliziertes System aus Leinen wird es in seiner aufrechten Position stabilisiert halten und dafür sorgen, dass Atlantikwasser durch die Trichter und Netzte fließen kann. Zweimal täglich wird der sportliche Italiener seinen Helm aufsetzen und Arbeitshandschuhe anziehen, um sich bei dem gewagten Manöver, das schwere Kreuz anzuheben und über Bord zu kranen, nicht zu verletzen. Das ganze wird keine Übung sein, keine Kunst- oder Protestaktion, sondern meeresbiologische Forschung. Wenn alles gut geht, werden die Netze am Kreuz Atlantikwasserproben aufsammeln, die dann später im Labor ausgewertet werden, und man wird endlich sagen können, was man bisher noch nicht wusste: nämlich in welcher Wassertiefe der Atlantik am meisten verschmutzt ist – mit Plastikteilchen.
Diese Erkenntnis wird einem höheren Zweck dienen, nämlich zu bestimmen, wie hoch der Aufwand sein wird, um das Plastik aus dem Wasser herauszufiltern.
Und wer jetzt denkt, das Ganze sei das Studienprojekt einer renommierten Universität, der liegt falsch. In Wahrheit ist es ein kleiner Schritt auf dem Weg zu einer großen Mission. Und diese wiederum ist das Herzensanliegen des jungen Mannes mit dem Safarihut, der keine Mühen und Kosten scheut, um seiner Vision in die Welt zu helfen: Das Plastik muss raus aus dem Wasser, sonst sterben die Fische! Und wenn es sonst keiner macht, muss er es eben selbst machen. Sein Name ist Boyan Slat.
Zum ersten Mal treffe ich Boyan am Flugsteig von Amsterdam Schiphol. Lange Haare, blasse Haut, schlaksige Erscheinung, astreines Englisch. Es reicht für Händeschütteln und den kurzen Austausch von Höflichkeiten, bevor sein Blick wieder auf den Laptop-Bildschirm wandert und sich darauf fixiert. Nicht mehr ansprechbar, vermutlich E-Mails.
Ich bin im Auftrag von 3sat da und soll für die TV-Reihe «Ab 18!» ein Portrait über diesen jungen Mann drehen. Ziel ist die Insel Bermuda, wo eine maritime Expedition in die Mitte des Atlantiks starten soll. Die Reise dorthin soll Bestandteil des Films sein, wir müssen sofort anfangen zu drehen. Ich wende mich an den sportlichen Typen, der neben ihm steht und sich als Francesco vorgestellt hat. «Im Flugzeug können wir quatschen, aber jetzt müssen wir noch drehen, wie ihr eincheckt und eine erste Szene mit euch am Flughafen.» Boyan schaut nicht mehr auf. Er hat ein Schild aus Konzentration um sich herum aufgebaut, das nicht mehr zu überwinden ist.
Täuscht die jugendliche Erscheinung, das studentenhafte Auftreten, die verwaschenen Jeans und die Haare im Gesicht? Auch wenn er erst 20 ist und auch so aussieht – hier sitzt kein schluffiger Student vor mir, der nicht weiß, wo die Reise im Leben hingeht. Im Gegenteil. Dieser junge Mann hat ein klares Ziel vor Augen, er hat eine Mission, für die er brennt und die seine ganze Aufmerksamkeit fordert. Er möchte Geschichte schreiben, er möchte das Ökosystem retten. Er möchte Plastik sammeln.
Und wozu? Dazu müssen wir etwas ausholen. Die Meere sind voller Müll, das wissen wir. Dass dieser vornehmlich aus Plastik besteht und von Fischen mit Nahrung verwechselt und gefressen wird, wissen wir auch, dazu müssen wir nicht einmal Zeitung lesen. Seit einigen Jahren verbreiten sich Bilder und Filme im Internet, die das Ausmaß der Katastrophe zeigen. Wir haben sie angeklickt. Wir sahen verendenden Fischen und Vögeln beim Verwesen zu – und haben uns erschrecken lassen von den morbiden Zeitrafferaufnahmen. Das letzte Bild dieser Sequenzen hat sich besonders ins Gedächtnis eingebrannt. Im Lauf des Verfalls nämlich zeichnete sich in den Bäuchen der Tiere ganz deutlich zivilisatorischer Müll ab: Flaschendeckel, Verpackungen, Fischernetze. Dann das Bild, das wir nicht mehr vergessen können: ein Friedhof aus Gräten, Knochen, Federn – und Plastikmüll. Die dürren Gebeine zeichnen sich fahl auf dem grauen Schlick ab. Die bunten Farbkleckse auf dem Bild stammen von den Kunststoffteilen, die im Verwesungsprozess übrig geblieben sind. Farbige Partikel unserer Zivilisation – weggeworfen, übriggeblieben, todbringend.
Umweltkatastrophe. Kollektive Betroffenheit. Zweifel an der Menschheit. Erst vor ca. 60 Jahren hat der Kunststoff Einzug in unsere Haushalte gehalten. Haben wir es in so kurzer Zeit geschafft, damit das Ökosystem der Meere zu gefährden?
Die knappe Antwort ist: ja. Seit Anfang der 50er Jahre ergießt sich ein nicht enden wollender Strom aus Plastikgütern über die Welt, die nach kurzem Gebrauch auf Müllhalden landen, in Verbrennungsanlagen oder eben im Meer.
Die Ozeane als Müllplatz sind nichts Neues. Nur ist Plastik besonders tückisch. Es schwimmt. Es sinkt nicht auf den Grund und verschwindet für immer, sondern es treibt, je nach Dichte, entweder an der Wasseroberfläche oder einige Meter darunter. Im Wasser treibend zersetzt sich die Kunststoffverbindung in kleinere Teile, bis hin zu Mikropartikeln. Von der Sonne beschienen sehen die bunten Plastikteile aus wie appetitliche Häppchen. Kein Wunder, dass die Vögel und Fische da zuschnappen. Nur verdauen können sie es nicht. Die Teile verstopfen die Mägen, die Tiere sterben.
Besonders perfide nimmt sich der Umstand aus, dass Plastik ewig im Wasser treibt und niemals zur Ruhe kommt. Tatsächlich sammelt es sich in riesigen Strudeln in der Mitte der Meere. Darin bleibt es gefangen, dreht sich im Kreis und löst sich langsam auf. Fünf dieser Strudel gibt es auf der Welt, in jedem Meer einen. «The Five Gyres» werden sie genannt, diese kilometerbreiten Strömungskreisel, in denen der Plastikmüll für immer treiben wird. Raus kommt er nicht mehr, der Müll, aber Fische können hinein. Für sie ist das ein «Paradies» aus unverdaulichen, todbringenden Speisen. Niemand sagt ihnen, dass sie da nicht hin dürfen. Keiner stellt ein Schild auf: Verbotene Zone. Fische, haltet Euch fern. Macht einen Umweg, schwimmt drumherum, aber bitte niemals mitten durch. Keiner kommt hier lebend raus.
Zur Veranschaulichung: Der größte Strudel, der «Northern Pacific Garbage Patch», ist so groß wie Frankreich!
Das ganze Ausmaß der Katastrophe hatte der junge Boyan noch nicht erkannt, als er damals, 15-jährig, in der griechischen Ägäis schnorchelte. Doch muss ihn eine Ahnung gestreift haben. Durch seine Taucherbrille sah er Plastiktüten, Verpackungen aller Art und Fischernetz-Fetzen um sich herumtreiben. Und tote Fische, denen Plastikstücke aus den Hälsen ragten. In jenem Sommer begann er, den Müll aufzusammeln. Er wollte die Fische in der Bucht zu retten, mit denen er tagsüber tauchte. Doch der Müll war widerspenstig. Er kam zurück. Mit jedem neuen Tag trieben neue Plastikteile dämmrig unter der Wasseroberfläche, schaukelte mal links mal rechts, wie die Wellen es wollten. Am Ende der Sommerferien hatte Boyan eingesehen, dass er mit seinen Flossen und seinem Schnorchel die Bucht niemals säubern würde. Er begann sich für das Problem zu interessieren. Wie kam das Plastik ins Wasser? Wie reagieren die Fische darauf? Und wie kriegt man es wieder aus dem Wasser? Das Thema ließ ihn nicht mehr los. Er biss sich daran fest.
In den folgenden Jahren las er alles, was ihm zum Thema Meeresverschmutzung und Müllentsorgung in die Hände fiel. Was er an Lösungsansätzen fand, war enttäuschend. Es konnte zwar festgestellt werden, wie viele Tonnen Plastik in welchem der fünf riesigen Strudel in den Weltmeeren vor sich hin dümpeln und welchen Schaden sie anrichten, doch es gab keine Idee, wie man sie jemals wieder rauskriegen könnte. Selbst von namhaften Wissenschaftlern erhielt er keine Antwort. Niemand wusste, wie man die Millionen Plastikteile aus dem Wasser fischen sollte. Wie war das möglich? Gab es niemanden, der das voranschreitende Sterben der Ozeane aufhalten konnte?
Boyan Slat, Sohn kroatisch-holländischer Eltern, war schon als Kind ein helles Köpfchen, nicht nur in der Schule, wo er eine Klasse übersprang. Im Alter von 10 Jahren hatte er eine Vorrichtung entworfen, mit der man Menschen aus brennenden Häusern evakuieren kann. Mit 14 brachte ihm die Tüftelei einer Wasserraketen-Abschussrampe sogar den Eintrag ins Guinessbuch der Rekorde ein, weil er damit mehr Wasserraketen gleichzeitig abschießen konnte als irgendjemand zuvor. Zur Serienreife hat es noch keine seiner Erfindungen geschafft, doch lassen sie deutlich erkennen, dass es sich hier um einen Jungen handelt, der weiter denkt als andere Kinder, der einen besonderen Blick auf die Welt hat und in die Tiefe denken kann.
Mit der Entdeckung des Plastikmülls in den Ozeanen stand der junge Boyan nun vor einem handfesten Problem. Er dachte über eine Lösung nach. Die Berechnungen sagten, mit herkömmlichen Schleppnetzen würde es 79 Tausend Jahre dauern, bis alles Plastik herausgefischt ist. Bis dahin war es zu spät. Es musste eine andere Methode geben.
Noch als Schüler ist ihm die Lösung eingefallen. Nicht die Netzte müssen zum Müll geschleppt werden, sondern der Müll muss zu den Netzen kommen. Lasst die Strömung die Arbeit machen! Lasst sie den ganzen Plastikmüll in die Netze schwemmen. Oder noch besser: Lasst die Strömung dafür sorgen, dass der Müll an einem Punkt gesammelt wird, von wo aus er dann entsorgt werden kann – clean und ohne Meerestiere zu beschädigen.
Das war sein Ansatz, von hier aus konnte er seinem erfinderischen Geist freien Lauf lassen. Sein technischer Verstand machte die Tüftelarbeit. Irgendwann setzte sich die Idee durch, kilometerlange schwimmende Barrieren V-förmig in der Mitte der Ozeane auszulegen. Direkt im Müllteppich. Die Strömung schwemmt den an der Wasseroberfläche schwimmenden Kunststoff in die geöffneten Arme der Barrieren. Einmal aufgefangen, wird er in die Mitte zu einer Art Recycling-Station gespült, dort aufgenommen und entsorgt. Der Trick ist, dass Fische unter den Barrieren durchschwimmen, das Plastik aber aufgehalten wird. Kein Beifang also.
Die Idee war es wert, verfolgt zu werden. Doch das kostet Geld. Boyan machte sich auf die Suche nach Partnern und Sponsoren. Die Sache nahm Fahrt auf. Das Studium der Raumfahrtechnik an der Universität Delft wurde lästig. Warum muss ich alten Professoren zuhören, wie sie aus ihrem Buch vorlesen, wenn ich das Buch in viel kürzerer Zeit selbst lesen kann? Die Frage war erlaubt. Außerdem drängte sein Meeresprojekt. Und so konnte er auch seine Mutter davon überzeugen, das Studium hinzuschmeißen. Gleichzeitig hatte er einen Auftritt bei einer «Ted-X-Konferenz», einem renommierten Wissenschaftsforum, wo zumeist junge Ausnahmetalente ihre Fähigkeiten und Projekte vorstellen. Mit dem Ted-X-Auftritt ging eine Crowdfunding-Kampagne einher, in der er Geld sammelte.
Diese Ereignisse schossen den jungen Boyan in den Medienhimmel wie einen Kometen, seine Idee wurde zu einem Lauffeuer in den Netzwerken, sein Wille zur Umsetzung – und besonders das jugendliche Alter – waren ein idealer «selling point». Zwei Jahre später ist der junge Holländer Vorstand des rasant wachsenden Non-Profit-Unternehmens The Ocean Cleanup mit Sitz in Delft. Er beschäftigt Meeresbiologen, Ingenieure, Aktivisten, Social Networker. Unter seiner Leitung hat sein Team eine Machbarkeitsstudie vorgelegt, die den Umfang einer Doktorarbeit hat. Gleichzeitig organisiert er sechs Expeditionen zu den Plastikstrudeln, um weitere Messwerte zu sammeln. Plastikmesswerte. Zwischendurch hält er Vorträge auf Umweltkonferenzen.
Als CEO eines Startups – von dessen Mitarbeitern er sagt, sie seien alle besser ausgebildet als er selbst – ist sein Terminkalender so voll wie der eines Top-Managers. Seine Arbeitswoche hat 80 bis 100 Stunden.
Sieht so ein Studienabbrecher aus? Einen Führerschein hat er nicht, noch lässt er sich von seiner Mutter fahren. Und eine Freundin hatte er bisher auch noch nicht.
Das ist die Vorgeschichte zu jenem heißen Junimorgen, an dem wir das Boot im Hafen von Georgetown besteigen und in See stechen. Die 13-köpfige Crew besteht aus wissenschaftlichen Mitarbeitern, ehrenamtlichen Helfern und Bewunderern. Boyan hat die Expedition durch den Verkauf von Mitfahrgelegenheiten finanziert. Fünftausend Dollar kostet eine Koje, und so ein Ticket beinhaltet die vollwertige Mitarbeit an Bord, also kochen, spülen, Deck schrubben und Ruderwache, auch nachts. Nicht zu vergessen das Trawlern zweimal täglich, wenn das Alu-Kreuz für genau eine Stunde ins Wasser gelassen wird und Proben fischt. Für dieses Manöver wird jede Hand an Deck gebraucht. Nach den Trawls müssen die Proben verarbeitet werden, d.h. die Plastikpartikel werden von Meeresorganismen getrennt, verpackt, beschriftet und in Trockeneisbehältern eingefroren.
Während das Boot gemächlich ins Bermudadreieck hineinsteuert, und die Insel immer kleiner wird, bis sie sich nur noch als kleine Wölbung am Horizont zeigt, wird klar: Kaum einer der Mitreisenden hat Erfahrung auf einem Segelboot. So mancher kämpft mit Seekrankheit, und die Aussicht, für die nächsten 10 Tage kein Land zu sehen, dafür aber auf engstem Raum in Durchgangszimmern übereinander gestapelt in Hängekojen zu schlafen, wirkt einschüchternd.
Wer jetzt noch aussteigen möchte, hat den Zeitpunkt verpasst. Die Sea Dragon ist nur 22 Meter lang und bietet nicht gerade einen üppigen Bewegungsradius. Am besten arrangiert man sich mit dem Gedanken, für den Zeitraum der Expedition auf jegliche Privatsphäre zu verzichten.
Ein ideales Setting für unseren Film – denke ich mir. Hier können wir Boyan Slat näher kennenlernen, hautnah und ungestört. Wir können ihn beobachten, belauschen, ausfragen und irgendwie versuchen, dem Phänomen Boyan Slat auch in seiner menschlichen Dimension auf die Spur zu kommen.
Kurz nach dem Auslaufen ist Boyan verschwunden. Er bewohnt die einzige Solokabine auf dem Schiff und kommt für lange Zeit nicht mehr heraus. Auch zum gemeinsamen Abendessen lässt er sich nicht blicken. Ist er seekrank – oder leidet unter Jetlag wie alle anderen auch?
Ich unterhalte mich mit dem Kapitän. Er ist erst 28 Jahre und hat schon zweimal die Welt umsegelt, das letzte Mal sogar ohne Zwischenstopp. Er hat Boyan schon bei vorangegangenen Expeditionen begleitet.
«Keine Ahnung, ob die Sache Erfolg hat. Ich meine, die Idee ist ziemlich wahnwitzig, noch nie hat jemand versucht, etwas in viertausend Meter Wassertiefe zu verankern.» – «Die Tatsache, dass es noch nie jemand versucht hat», meldet sich eine Stimme unter Deck, «muss nicht bedeuten, dass es nicht möglich wäre.» Es ist Boyans Stimme. «Man kann erst wissen, dass es unmöglich ist, wenn man es versucht hat.»
Boyan klettert aus der Kajüte, in der Hand eine Blechtasse mit roter Flüssigkeit, die aussieht wie Tomatensuppe. Ohne ein weiteres Wort quetscht er sich an uns vorbei und setzt sich allein aufs Vorschiff. Der Kapitän sieht mich an. «Verdammt, recht hat er. Das ist rationales Denken.»
An den nächsten Tagen der gleiche Ablauf: Boyan kommt lange nach den Mahlzeiten mit seiner Tasse an Deck und setzt sich abseits. Überhaupt lässt er sich nur blicken, wenn es etwas zu tun gibt, also zum Trawlern oder wenn er Ruderwache hat. Hin und wieder sieht man ihn an Deck liegend in Büchern vertieft, wenn es in seiner Kabine zu heiß geworden ist. «Sea Life» oder «Maritime Navigation» sind die Titel, und er ist darin ebenso versunken und unerreichbar, wie vor einigen Tagen am Flughafen in seine E-Mails.
Ist er schüchtern? Oder ist es der Rummel um seine Person, den er irgendwie abwehren muss? Dafür hätte ich Verständnis. Während ein Großteil der Mannschaft die Reise wie ein aufregendes Happening erlebt, in dessen Zentrum er steht, will er doch nur seinem Ziel näher kommen. Für den Moment heißt das: Messwerte zu sammeln, in welcher Wassertiefe sich das Plastik konzentriert. Das ist alles, worum es hier für ihn geht. Unterdessen geht sein fokussiertes Leben als Gelehrter selbstverständlich weiter, auch in Schwimmweste und bei Seegang.
Der Seegang kommt selbst nachts nicht zur Ruhe, dafür aber der Geist. Wer jetzt Ruderwache hat, sitzt im Dunkeln unter einer monumentalen Sternkuppel und fühlt sich winzig klein. Das ist unvermeidbar.
Üblicherweise ist das der Zeitpunkt, an dem man sich der eigenen Bedeutungslosigkeit gewahr wir. Gegen die endlose Weite des Universums hat der menschliche Verstand keine Chance. Über uns Milliarden Sterne – unter uns Milliarden Plastikpartikel.
Bei diesen Gelegenheiten wird Boyan gesprächig. Hier kann er mühelos von Planetenkunde zu Theorien aus der Quantenmechanik springen. Es sind keine Gespräche, eher kleine Stegreif-Vorträge. Einmal vergleicht er das unsichtbar unter der Wasseroberfläche treibende Plastik mit Schrödingers Katze, diesem Gedankenexperiment aus den 30er Jahren, wonach die in einer Kiste eingeschlossene Katze, nachdem sie mit Atomstrahlen beschossen wurde, beides ist, tot und lebendig, und zwar solange, bis jemand die Kiste öffnet und nachsieht.
Das sind Momente, in denen wir Boyan auf die Spur kommen. Sein durch und durch rationales Denken führt ihn soweit, die Gesetze der Welt in ihrem Gesamtzusammenhang verstehen zu wollen. Da, wo alles miteinander verknüpft ist.
Wenn man so will, ist das das typische Streben eines Gelehrten. Auch wenn er erst 20 Jahre alt ist und noch zu Hause bei seiner Mutter wohnt. Wir wissen nicht, wie viele Bücher er verschlungen und welche Verknüpfungen sich daraus ergeben haben. Wir wissen nicht, an welchem Punkt auf der Leiter er steht, die auf den Grund aller Dinge führt. Vielleicht ist er gar nicht mehr weit entfernt?
Wir können beobachten, dass ihn seine Eigenschaft, die Welt verstehen zu wollen, furchtlos macht. The Ocean Cleanup ist eine derart große Aufgabe, dass es eine normale menschliche Reaktion wäre, davor fortzulaufen. Warum tut er sich das an? Warum sucht er sich nicht eine Freundin und führt sie schick zum Essen aus, oder betrinkt sich mit seinen Kumpels, wie es so viele machen?
Seine Mutter hatte in einem Interview gesagt, er müsste es nicht tun. Und sich zugleich gefragt, warum, wenn viele Generationen zur Verschmutzung der Meere beigetragen hätten, ausgerechnet ihr Sohn glaubt, alles wieder aufräumen zu müssen?
«People don't think big enough», sagt Boyan. Ein jeder könne die Welt verändern, es sei im Grunde ganz einfach: Man muss nur etwas finden, was sonst niemand tut, und auch niemand tun möchte, und genau das zu seiner Leidenschaft machen.
So einfach? Boyans Leidenschaft hat ihn weit gebracht. Aktuell mitten ins Bermudadreieck, wo seine größte Entbehrung ist, aufs Internet verzichten zu müssen. Der Umstand, dass er sich während der gesamten Expedition ausschließlich von Tomatensuppe aus der Tüte ernährt, mag schrullig erscheinen. Gleichzeitig kann er sich aus jeglicher Küchenarbeit heraushalten und sich um Wesentlicheres kümmern, z.B. Plastik im Meer.