«Wir befinden uns im Jahre 2016 nach Christus. Ganz Südtirol ist von den Apfel-Monokulturisten besetzt. Ganz Südtirol? Nein! Ein von unbeugsamen Obervinschgauern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.» Es ist: «Das Wunder von Mals», wie der Filmemacher Alexander Schiebel dieses Lehrstück der direkten Demokratie so treffend charakterisiert – eigentlich bräuchte es eine ganze Reportage-Trilogie, um angemessen davon zu erzählen …
Mals ist das erste größere Südtiroler Dorf, das man, über den Reschenpass kommend, in Richtung Meran durchfährt. Im Dreiländereck Italien-Österreich-Schweiz gelegen, besteht die Gemeinde Mals aus zehn sogenannten «Fraktionen» mit etwas über 5.000 Einwohnern und erstreckt sich zwischen 978 und 3.738 Höhenmetern über eine Fläche von mehr als 240 Quadratkilometern.
Wer oberhalb des Hauptorts verweilt, wird wohl zuallererst von den schneebedeckten Spitzen der Ortlergruppe angezogen, deren massiger Hauptgipfel mit fast 4.000 Metern der höchste Berg Südtirols ist. Weniger imposant, aber kunst- und sozialgeschichtlich von besonderem Reiz, sind die über den Malser Dächern aufragenden romanischen Kirchen, darunter St. Benedikt, deren karolingische Fresken zu den ältesten im deutschen Sprachraum überhaupt gehören. Dass sie sich bis heute erhalten haben, hat – genau wie die Kleinteiligkeit des Landschaftsbilds – mit dem im Vinschgau seit dem Mittelalter herrschenden Erbprinzip der «Realteilung» zu tun. Die alemannischen Malser waren, verglichen etwa mit den bajuwarischen «Unterländern» um Meran, über lange Jahrhunderte arm und konnten sich den regelmäßigen Umbau ihrer Kirchen schlicht nicht leisten.
Einen anderen Mangel dagegen haben die Vinschgauer schon immer auszugleichen gewusst, nämlich die unvorstellbare Trockenheit ihres nach Süden exponierten Tals, in dem mancherorts kaum 500 mm Jahresniederschlag fallen – ein Wert vergleichbar den trockenen Regionen Siziliens. Wurde das reichlich fließende Gebirgswasser jahrhundertelang über ein ausgetüfteltes Grabensystem – den sogenannten «Waalen» – zum Fluten der trockenen Äcker und Wiesen ins Tal geleitet, ist das ganze Land heute mit einem lückenlosen Beregnungssystem überzogen. Und weil die Böden selbst fruchtbar sind, die Sonne großzügig scheint und der aus den Bergen fallende «Oberwind» die Schadpilze in Schach hält, war der Obere Vinschgau lange Zeit die Roggenkammer Tirols und ist, insbesondere seit der Klimawandel die Temperaturen steigen lässt, bis heute für viele landwirtschaftliche Kulturen ein perfektes «Ökotop».
Auch für den Apfel! Und der ist auf dem Vormarsch. Denn immer häufiger sieht man in Mals die Beton-und-Draht-Parzellen der modernen Apfelkultur, wie sie zuvor nur in den tiefer gelegenen Regionen Südtirols anzutreffen waren. Tatsächlich sind es die zu Geld gekommenen «Unterländer», die, als «bäuerliche Eroberer», nun auch in Mals meistbietend Grundstücke kaufen, um das erfolgreiche Geschäftsmodell der Apfelmonokultur noch in die letzten Winkel zu verbreiten. Doch was für Touristen und Landschaftsromantiker bestenfalls ein ästhetisches Problem ist, hat sich binnen weniger Jahre für viele der ansässigen Landwirte zur existenziellen Katastrophe ausgewachsen.
Der Grund? Es geht um das, was die Sprachverdreher gerne verharmlosend «Pflanzenschutzmittel» nennen, in Mals aber, unter dem Klarnamen «Pestizide», zu dem gemeindepolitischen Thema der letzten Jahre überhaupt geworden ist. Schließlich kommt kaum eine Monokultur langfristig ohne den massiven Einsatz von Pestiziden, synthetischen Düngern und immer mehr auch gentechnisch veränderte Sorten aus.
Doch was in der Ebene, auf großen, windarmen Flächen zumindest juristisch unanfechtbar sein mag, wird in der kleinteilig parzellierten «Arena» des Malser Oberwindes ein Spiel mit dem Feuer. Denn der vom Winde verwehte feine Gift-Sprühnebel schlägt sich auf Kinderspielplätzen, Schulhöfen, in Hausgärten und nicht zuletzt auf den Acker-, Wiesen- und Weideflächen der einheimischen Bauern dauerhaft und «nachhaltig» nieder.
«Wollen wir das»? An immer mehr Orten und immer lauter wurde diese Frage in Mals gestellt. Günther Wallnöfer jedenfalls wollte das nicht. Er hatte 2006 den ererbten elterlichen Milchviehbetrieb auf «Bioland» umgestellt, als er 2009 den ersten Pestizid-Apfel-produzenten zum Nachbarn bekommt. Seine systematischen Abdriftmessungen waren mehr als ernüchternd. Und selbst der verzweifelte Versuch durch Feldertausch den Giftwolken zu entfliehen, konnte nur eine vorübergehende Lösung sein; immer mehr Unterland-Apfelbauern drängen, vom übermächtigen Südtiroler Bauernbund unterstützt, auf die fruchtbare Malser Flur. Erst als Wallnöfer nicht mehr an eine einvernehmliche Lösung des immer offener ausgetragenen Konflikts glaubt und sein Überleben als Bio-Bauer bedroht sieht, trägt er, mit anderen Betroffenen, seine Sorgen in die Öffentlichkeit.
In eine Öffentlichkeit, deren alternative lokale Initiativen – wie die Umweltschutzgruppe Vinschgau, Adam&Epfl, Kornkammer – teilweise schon seit Jahren für ganz ähnliche Ziele kämpfen. Was das erwachende Engagement neuer gesellschaftspolitischer Akteure vermag, zeigen dann sehr eindrücklich die überwiegend weiblichen «Aktivisten» des Hollawint-Netzwerks. «Ein Bio-Bauer, der seinen Grund verlassen muss, weil sein neuer Nachbar Gift gespritzt hat – so was darf man doch nicht zulassen!» Martina Hellrigl, gelernte Architektin und Mutter zweier Kleinkinder, hofft allerdings vergeblich auf einen Aufschrei der Öffentlichkeit. Und weil auch Béatrice Raas, die den gleichen Vortrag mit der gleichen Empörung gehört hat, ebenfalls nicht einfach nur zusehen will, kommt es zu einem ersten «konspirativen» Treffen im Salon der Laatscher Friseurmeisterin. «Wenn ich gewusst hätte, was da auf uns zukommt, hätte ich sicher Angst gehabt!» – Haben sie aber nicht. Dafür jede Menge Fantasie und Tatkraft.
Als in der örtlichen Zeitung ihr Leserbrief erscheint – 13-mal abgedruckt, 69-mal unterzeichnet –, wird in Mals ein Gedanke wachgeküsst, der bis dahin in vielen Köpfen nur geschlummert hat: Wir wollen und können etwas unternehmen!
Und als dann über der allgemeinen Sorge, über Empörung und Mitgefühl noch ein sehr konkretes, realisierbares politisches Ziel aufsteigt – die Vorbereitung und Durchführung einer Volksabstimmung für eine «pestizidfreie Gemeinde Mals» –, werden weitere Energien freigesetzt und weitere Akteure aktiv. Allen voran, als der Sprecher des 74-köpfigen «Promotorenkomitees», Johannes Fragner-Unterpertinger. Seines Zeichens Apotheker der Hauptgemeinde Mals und dazu ein über den Vinschgau hinaus bekannter Schriftsteller. Er spannt sich vor das Geschirr des inzwischen von vielen tatkräftigen Menschen geschobenen Karrens. «Es ging nicht nur um Widerstand, sondern um das bessere Modell, um ein ökologisch-soziales Projekt, das Handwerk und Bauernstand, Handel und Tourismus umfasst, allen einen sinnvollen Mehrwert bietet und dabei die Generationengesundheit im Auge behält.»
Welche Art Gegnerschaft die Volksabstimmung allerdings auf den Plan ruft, wird an der Art deutlich, wie man mit dem Sprecher des Promotorenkomitees umgeht. Die persönlichen Angriffe gipfeln schließlich in einer Strafanzeige. «Ein Wahnsinn, wenn man denkt, dass ein Bürger, der einen Antrag stellt, bedroht und angeklagt wird – oder?» Dass gerade Ulrich Veith dies sagt, spricht für ihn, denn er selbst steht als Gemeindebürgermeister kaum weniger im Fokus der Anfeindungen.
Veith war und ist ein Glücksgriff für Mals. Klug, empathisch, unaufgeregt –?mit offenem Ohr und viel Spaß an seinem Amt eröffnete er den Gemeindemitgliedern von Anfang an weite Räume der Mitgestaltung. «Ich habe in der Schweiz gesehen, was direkte Demokratie bewirken kann – positiv wie negativ.» Pestizidrückstände? Auch wenn das zuvor nie ein Thema für ihn war: «Eine zentrale Aufgabe der italienischen Bürgermeister ist es, die Gesundheit der Bürger zu schützen.» Was er dann auch konsequent tat – bis zur erfolgreichen Volksabstimmung und darüber hinaus. Wie die Abstimmung ausging? Ja-Stimmen für ein pestizidfreies Mals: 75,68 %, bei einer Wahlbeteiligung von 69,22 %.
Was sollte man noch aus Mals berichten? Dass der Gemeinderat die Umsetzung der Volksabstimmung verweigert hat? Dass die Regelung inzwischen dennoch in Kraft getreten ist?
Dass es anhaltende Widerstände aufseiten des Bauernbundes gibt? Dass die Malser dank ihres belgischen «Neubürgers» Koen Hertoge, Mitglied im PAN (PestizidAktionsNetzwerk), eine tragfähige Brücke nach Europa bauen konnten? Dass man weltweit auf die Widerständigkeit der Malser aufmerksam wurde? Ja, die harten Fakten und das bisher Erreichte sind erfreulich.
Besuchen Sie Mals! Virtuell oder besser noch real. Und suchen Sie nach dem Zaubertrank der Malser. Besuchen Sie Friedrich Steiner – der sich «Landwirt» nennt und der ganz «nebenbei» das erste Bio-Hotel Italiens führt. Der einen feinen Palabirnen-Schnaps ebenso zu destillieren versteht wie feinsinnige Gedanken über die Symbiose von biologischer Landwirtschaft und Tourismus. Besuchen Sie das Gartenparadies der Bernhards aus Burgeis, einen ökologischen Garten, in dem vieles zu sehen ist – auch Äpfel. Und wer es kann, sieht auch die zarten Spuren der Andacht und Hingabe, die zwanzig Jahre liebevolles Gärtnern einem Garten einpflanzen können. Besuchen Sie den Apotheker in der Apotheke, die Naturfriseurin in ihrem Salon, und wenn Sie Hunger verspüren, besuchen Sie die Stroossnkuch, einen Imbiss, der zugleich Sozialprojekt ist, mit selbstgezogenem Biogemüse und einem geschäftsführenden Jazzmusiker, der den Laden rockt.
Besuchen Sie virtuell, dank Alexander Schiebel, auch alle anderen, die zu besuchen uns die Zeit nicht ausreichte. Schiebel, ein Österreicher und neuerdings ein Wahl-Malser, der mit seinen intensiven Filmsequenzen und -porträts das Wunder von Mals in die Welt hinausgetragen hat, formuliert es so: «It takes a village to make a film.» Und man möchte ergänzen: ein Dorf, das sich selbst aus dem Dornröschenschlaf der politischen Selbstvergessenheit wachgeküsst hat!