Christian Hillengaß (Text) & Wolfgang Schmidt (Fotos)

«Hier woonde en werkte Max Beckmann»

Nr 202 | Oktober 2016

Auf den Spuren Max Beckmanns durch Amsterdam

«Ich bin oft – sehr oft allein. Das Atelier in Amsterdam, ein großer alter Tabakspeicher, füllt sich aufs Neue mit Figuren aus alter und neuer Zeit, und immer spielt das Meer von nah und weit durch Sturm und Sonne in meine Gedanken. Dann verdichten sich die Formen zu Dingen, die mir verständlich erscheinen in der großen Leere und Ungewissheit des Raumes, den ich Gott nenne.»
Nah ist das Meer in Amsterdam, und Wasser durchwirkt die ganze Stadt. Gleich hinter dem von Abertausenden Fahrrädern umstellten Bahnhof schwappt das kleine Ijsselmeer an die Altstadt, die Kanäle der Grachten bestimmen ihren Grundriss, die Nordsee ist nur einen Katzensprung entfernt.
Max Beckmann, ein Freund des Meeres, ein Maler, der es immer wieder in seinen Bildern aufleuchten lässt, kommt 1937 mit seiner Frau Mathilde, genannt «Quappi», aus Berlin hierher. Es ist der Gang ins Exil, seine Kunst gilt im Dritten Reich als «entartet». Drei Jahre später hat sich die Lage weiter verschlimmert. Am 4. Mai 1940 eröffnet er sein Tagebuch «im Stadium der vollkommensten Unsicherheit über meine Existenz und den Zustand unseres Planeten. Chaos und Unordnung, wohin man blickt. – Völlige Undurchsichtigkeit der politischen, kriegerischen Angelegenheiten.»
Als die Wehrmacht eine Woche darauf die Niederlande besetzt, verbrennt Beckmann seine Journale aus den Jahren zuvor. Fortan wird er in knappen, unverfänglichen Notizen die Tage des Exils dokumentieren. Komprimiert spiegeln sie Persönliches und Welt­geschehen: «Samstag, 29. Mai 1943. Trotz starkem Hexenschuss am rechten Bild des ‹Carnavals› gearbeitet – wird jetzt was – / Nachmittag durch verödete Judenhäuser-Straßen gegangen.»

Was Krieg bedeutet, weiß Beckmann nicht allein durch Sirenengeheul und Bomber über der Stadt. Im Ersten Weltkrieg war er als freiwilliger Sanitätshelfer an der Front, bis er zusammenbrach. Damals war ihm seine Kunst ein Rettungsanker. «Ich habe gezeichnet – das sichert einen gegen Tod und Gefahr.» Auch jetzt ist ihm die Malerei seelische Stütze und intensives Verlangen zugleich. In den zehn Jahren, die er in Amsterdam verbringt, ist er so produktiv wie nie.
Beckmann malt großformatig, raumgreifend, grob und transzendent zugleich. Durch seine gegenständlichen, fantastischen, traum- und albtraumhaften Motive verbindet er sich mit den großen Themen und Fragen, die ihn umtreiben. Es geht ihm um den Menschen als Akteur auf der großen Bühne des Lebens, als Spieler im Casino des Schicksals, als Artist, der im Zirkuszelt der Welt versucht, sich im Gleichgewicht über den Abgründen zu behaupten. Nichts Geringeres sucht er dabei als die Durchdringung der Wirklichkeit mit künstlerischen Mitteln, um die Geheimnisse dahinter zu erfassen. «Willst Du das Unsichtbare kennenlernen, ergib Dich mit ganzem Herzen dem Sichtbaren.»
Das einstige Atelier in Amsterdam, der große alte Tabakspeicher, liegt am Rokin 85 im Zentrum der Stadt, darunter die ehe­malige Wohnung der Beckmanns. Heute spielt sich vor dem schmalen Haus innerstädtischer Konsum- und Kneipen­rummel ab. Bars und Geschäfte reihen sich den breiten Boulevard entlang. An der Hausfassade eine kleine Inschrift: «Hier woonde en werkte Max Beckmann van 1937 – 1947».

  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Von diesem Ort verlieren sich die Spuren des Malers schnell in der Stadt. So gut wie nichts Sichtbares erzählt davon, dass er einmal hier war, in unsicheren, aber wichtigen Jahren. «Die Rolle die Du zur Zeit spielst ist die schwierigste aber auch großartigste die Dir das Leben bieten konnte – vergiß das nicht – Max Beckmann – und gerade so wie sie ist», notiert er gegen die Bedrängnisse am 18. Dezember 1940. Das Doppelbildnis Max Beckmann und Quappi, an dem er in diesem Kriegswinter malt und das heute im Stedelijk-Museum hängt, ist eine dieser wenigen sichtbaren Spuren in Amsterdam. Drei weitere Werke kann man noch entdecken. An einem besonderen Ort, einen Spaziergang von der Haustür des Meisters entfernt.
Wer ihn heute gehen mag, blendet die Menschenmenge aus und folgt der Gestalt des Malers – Jackett und weite Anzugshose, einen Hut auf dem massiven Schädel und einen Pekinesen an der Leine – durch das kriegsgraue Amsterdam, sieht die beiden den Rokin Richtung Bloemenmarkt hinunterlaufen und zum Spui-Platz abbiegen. Dort lohnt sich ein kurzes Auftauchen ins Heute, um die 1966 gegründete Buchhandlung Athaneum zu besuchen. Ein fabelhafter Ort zum Stöbern. Draußen, am nördlichen Rand des Platzes, findet sich ein zweiter Grund, den Maler kurz aus den Augen zu lassen, durch eine Pforte in der Häuserfront zu verschwinden und in den ruhigen Beginenhof einzutauchen.

Hier, gleich links, befindet sich der Eingang einer ehemals geheimen, als Wohnhaus getarnten katholischen Kapelle. 1951 erhielt sie neu gemalte Glasfenster. Der aus dem Grab erstehende Erlöser trägt seitdem ungewöhnlich feminine Züge, wenn nicht sogar die der Künstlerin selbst: Gisèle Waterschoot van der Gracht hat der Kirche hier einen weiblichen Christus untergejubelt – eine mit Beckmann befreundete Künstlerin, deren Biografie an dieser Stelle aus Platzgründen nur als «märchenhaft» angedeutet werden kann. Zu ihr führt die Spur des Malers zurück. Zu ihr und ihrem Gefährten Wolfgang Frommel, einem ebenfalls aus Deutschland emigrierten Dichter und Journalisten, der für Beckmann in der Zeit des Exils ein wichtiger Gesprächspartner ist.
So geht es weiter vom Spui zur Herengracht 401. Dort steht das Haus der (Glas-) Malerin. Wie ein Turm ragt das 1724 erbaute Gebäude mit seiner spitzen Flucht in den Zusammenfluss zweier Grachten: das Castrum Peregrini, die Pilgerburg, benannt nach der uneinnehmbaren Templerfestung bei Haifa. Die Bezeichnung war einst schützendes Omen und Tarnname zugleich. Denn in der Drei­zimmerwohnung im dritten Stock wohnten nicht nur die Malerin und der Dichter. Sie war auch Versteck für mehrere Verfolgte, insbesondere für zwei jüdische Jugendliche, die Wolfgang Frommel hier in Sicherheit gebracht hatte. Diese Sicherheit war in der Schwebe, jederzeit musste mit Hausdurch­suchungen gerechnet werden. Jahre- ­lang konnten die Jungen das Haus nicht verlassen, waren meist nachts auf und schliefen tagsüber, um nicht entdeckt zu werden. Um sie in dieser Situation bei Verstand zu halten, hielten sie Frommel und Gisèle zu einer intensiven Beschäftigung mit Kunst und Literatur an. In beinahe klösterlicher Meditation wurden Dichtung, Rezitieren, Interpretieren und Schreiben gepflegt. So überstanden sie in diesem engen, aber durch menschliche Wärme, Kunst und Fantasie geweiteten Raum die Besatzungszeit.

Das kleine Appartement lässt sich heute noch besuchen. Über ein steiles Treppenhaus erreicht man die Räume, deren Einrichtung sich seit 1940 nicht verändert hat. An jenen Wänden, die nicht voll mit überbordenden Bücher­regalen sind, finden sich das Porträt, das Beckmann von Gisèle zeichnete, sowie zwei weitere seiner Werke, die er ihr schenkte: die Junfrau mit dem Untier und Zwei Tänzerinnen.
Ein Riese sei damals die schmale Treppe zur Wohnung heraufge­kommen, ein Riese mit einem winzigen Hund auf dem Arm, so schilderte sie Beckmanns Erscheinen. Der Blick über die Dächer, der nahe Himmel, das Wasser der Gracht tief unten – wie ein Burggraben. Es war dieser Blick, der Gisèle dazu brachte, die Wohnung an­zumieten. Später war es ihr möglich, das gesamte Gebäude zu kaufen, ihr Atelier unter einem glasbedachten Flügel einzurichten und das Haus schließlich in die Stiftung Castrum Peregrini zu überführen. Im Mai 2013 starb sie, hundertundeinsjährig, eine zierliche Zauberin oder «Räuberhexe», wie einer der Untergetauchten liebevoll schrieb, deren Geist, Fantasie und Sinn für die Dinge sich noch heute in diesem Reich spiegelt. Das Castrum ist ein Ort, wie ein Pfahl in der Zeit, alt und doch so jung und zeitgemäß – vor allem auch durch die Art, wie es von der Stiftung verwaltet wird, die den Ort als «Intellectual Playground» mit kulturellen Veranstaltungen lebendig und offen hält.

«! Friede !» – steht zu Kriegsende in Max Beckmanns Tagebuch. Und als käme eine Menge Energie zurück, häufen sich die Tagebucheinträge zum «fietsen». Das «Fiets» – das Fahrrad – ist in Amsterdam allgegenwärtig, und es ist pures Vergnügen, sich der schnellen, pragmatischen Fahrweise der Einheimischen anzupassen und mit dem Strom der Räder durch die ebene Stadt zu gleiten. Die einzigen Erhebungen, die kleinen Brückenbögen über die Grachten, erzeugen beim Überfliegen Glücksgefühle im Bauch. «T’ja – wenn ich das Fiets nicht hätte!», schreibt der Maler. Im Sommer 1947 erhält er, dank der Vermittlung durch Gisèle, das lang ersehnte Visum für die USA und kann dem Ruf als Professor an die Washington University in St. Louis folgen.
Das letzte große Werk, an dem er arbeitet, ist das Triptychon Die Argonauten, zu dem er durch Gespräche mit Wolfgang Frommel inspiriert worden war, der die Gruppe der Versteckten in der Herengracht und ihre geistigen Verbündeten mit dieser mythologischen Schar verglich. Einen Tag nach der Vollendung, am 27. Dezember 1950, stirbt Max Beckmann bei einem Spazier­gang im New Yorker Central Park. Deutschland hat er nie wieder gesehen. In einem Tagebucheintrag aus Amsterdamer Zeit heißt es: «Auf der Suche nach der Heimat, aber er hatte sein Daheim auf dem Wege verloren – so sterben alle wahrhaft großen Könige des Lebens. / ‹Nachtstilleben mit Sonnenblumen› fertig.»