Das Reformations- und damit das Lutherjahr beginnt! Vor fünfhundert Jahren veröffentlichte der Reformator seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel. Er stürzte damit «den Himmel herab» und setzte «die Welt in Brand». Zahlreiche (durchaus spannende) Bücher kann man sich darüber zu Gemüte führen und / oder den Ort des Geschehens direkt befragen. Ein Ausflug nach Wittenberg, ins Epizentrum der Reformation.
Weite Landschaften mit ausgedehnten Feldern ziehen vorbei. Sandiger Boden, Kiefernwälder und Birken. Wolken hängen über dem Horizont wie anrückende Schlachtschiffe. Kleine Bahnhöfe, Fabrikgebäude mit zerfallenen Dächern, Gras wächst durch stillgelegte Nebengleise. Ortschaften mit Schrebergartenkolonien, Kolchosehallen mit Graffiti. Dann wieder weite Äcker und Wolken. Irgendwo in dieser Weite da draußen soll einst ein junger Student in ein heftiges Gewitter gekommen sein und in seiner Todesangst der heiligen Anna versprochen haben, Mönch zu werden, würde sie ihn heil da herausbringen. Anna half. Und der Student Martin Luther wurde nicht Jurist, sondern Geistlicher, was seinen Vater ziemlich in Rage brachte, aber für die Welt letztendlich recht bedeutend war.
Der Regionalexpress rollt über eine Brücke, unten fließt die Elbe, kleine Sandbuchten sicheln sich an ihrem Ufer entlang. Nächster Halt: Lutherstadt Wittenberg, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Wittenberg, die Stadt, die Luthers Nachnamen zum Vornamen hat, ein Nest mit Geschichte, ziemlich genau in der Mitte zwischen Leipzig und Berlin.
«An den Grenzen der Zivilisation», wie es Luther vorkommt, als er 1508 hier eintrifft, 2000 Einwohner zählt die Stadt damals, aber sie hat eine neu gegründete Universität mit bestem Ruf und wird von Kurfürst Friedrich dem Weisen zur Residenzstadt ausgebaut. Luther, inzwischen zum Priester geweiht, promoviert sich zum Doktor der Theologie und lehrt hier schließlich als Professor. Wittenberg wird zum Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens und damit zu einem der bedeutendsten Zentren der Reformation. Das protestantische Rom, wie manche sagen.
Auf dem Weg vom Bahnhof in die Innenstadt haben sich die Wolken in Regen verwandelt, das historische Pflaster glänzt, fast niemand ist unterwegs. Aus dem Schaufenster eines Tätowierstudios springt die Fratze des Teufels, mit dem Luther regelmäßig rang. Sonst in den Auslagen der Geschäfte: Luthernudeln, Lutherbrot, Luther-T-Shirts, Luthersocken, Lutherliteratur. Zwei große Bücherregale füllt das Schriftwerk über den Reformator und seine Entourage in der örtlichen Buchhandlung. Draußen, auf dem Marktplatz, steht er überlebensgroß, neben ihm Philipp Melanchthon, sein treuer Gefährte und kluger Mitstreiter.
Den beiden gegenüber, an einem Bürgerhaus aus dem 16. Jahrhundert, tut sich eine Tür in ihre Zeit auf. Hier wohnte Lucas Cranach der Ältere, den Kurfürst Friedrich mit großzügigen Privilegien als Hofmaler von Wien nach Wittenberg gelockt hatte. Cranach war weit mehr als ein Maler. Er war Gestalter im umfassenden Sinn, entwarf Inneneinrichtungen, Mode und Architektur, besaß eine Apotheke und vor allem auch: eine Druckerei. Hier verlegte der Vertraute Luthers das «Septembertestament», das Neue Testament, das Luther im Herbst 1521, auf der Wartburg versteckt, sprachgewaltig ins Deutsche übertragen hatte. Die düster-fantastischen Kupferstiche, mit denen Cranach darin die Apokalypse des Johannes illustriert hat, sind neben anderen Exponaten hier zu sehen. Sie ziehen hinein in eine Zeit, in der die Furcht vor dem Jüngsten Gericht, einem richtenden Christus und strafenden Gott, die Angst vor Tod, Teufel und Fegefeuer wie ein permanentes Gewittergrollen über den Gemütern lag.
Die Kirche schlug kräftig Kapital daraus, umherziehende Prediger verkauften Ablassbriefe, durch die man sich flugs von Sünden freikaufen und dem Fegefeuer entspringen konnte. Auch Martin Luther sitzt diese Angst in den Knochen. Wenn er zwar von den Ablassbriefen nichts hält, versucht er doch verzweifelt, durch Mönchtum, Buße und asketische Lebensführung sich einen Platz im Himmel zu erkaufen. So groß ist die Angst, dass er oft vor dem Bildnis des Gekreuzigten oder der Hostie zusammenzuckt. Sein Mentor, Johannes von Staupitz, weist ihn mehrfach darauf hin, milder mit sich zu sein. «Was dich erschreckt, ist nicht Christus, denn Christus erschreckt nicht, sondern tröstet.»
Staupitz steht in der Strömung einer alten mittelalterlichen Mystik, die gleichsam die herrschende Macht- und Schreckenstheologie unterläuft und eine ganz andere Weisheit kennt: den liebenden Gott voller Gnade, der dem Menschen bereits innewohnt, sodass der sich ihm nicht durch äußerliche Taten andienen, sondern ihn schlicht in seinem Inneren finden kann. Das Einsinken in Gott mache die Seele «ganz gottfarben, göttlich, gottförmig», heißt es bei Johannes Tauler, einem starken Vertreter dieser Strömung. Erst dann bekommen auch die Taten göttliche Qualität. Staupitz empfiehlt Luther die Lektüre des Straßburger Mystikers. Und tatsächlich findet der bei Johannes Tauler «mehr an ordentlicher und ernsthafter Theologie als bei sämtlichen scholastischen Gelehrten». Das eröffnet ihm neue Horizonte und rettet ihn letztendlich. «Denn ich hette mich (wo es lenger geweret hett), zu tod gemartert mit wachen, beten, lesen und ander erbeit etc.»
Luther liest im Licht dieser Mystik die Bibel völlig neu und entdeckt darin die voraussetzungslose Gnade Gottes, nach der er lange suchte. Er verwirft daraufhin alle kirchlichen Hierarchien, scholastischen Konstrukte und Institutionen, die sich zwischen Gott und Mensch stellen, und verweist auf die Bibel und Christus allein. All dies schlägt sich in seinen 95 Thesen nieder, mit denen er nun gegen den Ablasshandel protestiert, und verleiht ihnen enorme Sprengkraft.
Verlässt man das Cranachhaus, findet man sich in einem kleinen Hof wieder. Acht Künstlerinnen und Künstler arbeiten hier und verkaufen im Café 3 ihre Werke, Kaffee und feines Gebäck. Eine von ihnen sitzt auf einer Bank und liest, ihr einziger Gast ist ebenfalls in einen Roman vertieft. Andächtige Stille. «Ist es in Wittenberg immer so menschenleer?» – «Nein», lacht die Künstlerin, «wenn die Busse kommen, wird es oft sehr voll. Zumal jetzt, da das Lutherjahr beginnt, das fünfhundertjährige Jubiläum des Thesenanschlags.» Gäste aus aller Welt werden erwartet und zahlreiche Veranstaltungen stehen auf dem Programm. Die evangelische Kirche lebt mit einer «Lutherdekade» schon seit zehn Jahren auf dieses Datum zu.
Ob Luther am 31. Oktober 1517 seine Thesen persönlich ans Portal der Wittenberger Schlosskirche geschlagen hat, ist nicht genau belegt, der wissenschaftliche Streit darüber hat bereits an die 300 Publikationen hervorgebracht. Fest steht, dass er sie an diesem Tag an den Erzbischof von Mainz schickte und damit öffentlich machte. Fest steht auch, dass sie in Europa auf fruchtbaren Boden fielen. Entgegen seiner Absicht, die Kirche behutsam durch Diskussion und Einsicht zu wandeln, fangen seine Worte Feuer, spalten die Kirche und ziehen verheerende Religionskriege nach sich. Es «hieß den Himmel herabstürzen und die Welt in Brand setzen», wie Luther rückblickend feststellen muss.
Für die rasche Verbreitung seiner Thesen und Schriften sorgte die neue Technik des Drucks. Cranachs Pressen bekamen ordentlich zu tun. In seinen Werkstätten in den Cranach-Höfen, die in den 1990er-Jahren durch eine Bürgerinitiative vor dem Verfall gerettet wurden, steht heute wieder ein Schriftsetzer. Andreas Metschke betreibt hier eine historische Druckstube und kann anschaulich davon erzählen, wie sich die Theologie Luthers durch das Druckerhandwerk über die Lande verbreitete. Wortgewaltig, unterhaltsam und äußerst humorvoll weiß auch Bernhard Naumann von damals zu berichten, der als Doktor Luther höchstpersönlich durch die Straßen zieht. Die Führungen mit ihm und Katja Köhler, die Luthers Frau Katharina von Bora gibt, sind ein Genuss.
Stiller – aber viel erzählt auch die Stadt allein, mit ihrer schönen, unzerstörten historischen Erscheinung, mit Luther-, Cranach- und Melanchthonhaus, mit der Stadtkirche St. Marien, in der Luther predigte und in der Cranachs Gemälde wie in einem Museum zu bestaunen sind. Vor den Toren der Stadt liegen die Elbauen, der Fluss fließt sanft, eingebettet in grüne Wiesen. Ein Blick zurück zeigt ein übersichtliches Panorama, links die Schlosskirche, rechts die Stadtkirche, darinnen und zwischendrin viel gepflegte Geschichte.