Wenn der Bühnenbildner David Hohmann seinen Namen googelte, erschien noch vor wenigen Jahren an erster Stelle der Hinweis auf einen: Eier-Spender. Eher ein Beiprodukt Hohmannscher Kreativität und ehrenamtlich realisiert. Eine Sache mit viel Publikum und großem Echo in der Lokalpresse zwar, aber ohne Vorhang und Eintrittskarten. So etwas kann einen schon mal irritieren – etwa dann, wenn man sich gerade seines künstlerischen Marktwertes vergewissern will.
An der Südflanke der MOTTE, Hamburgs berühmtestem Stadtteilzentrum, genau dort, wo der MOTTE-Kindergarten an einen Hühner(Freilauf)Hof grenzt, steht er aufgeständert: «Hohmanns Kasten», eine patente Kiste, der man gegen kleines Geld Eier entnehmen kann. Nicht irgendwelche Eier!
Hier, und nur hier, gibt es die Naturprodukte der bekanntesten, der meistgeliebten, der urbansten, der am häufigsten von Kinderhand gemalten Hühner des Stadtstaates Hamburg.
Ja, vielleicht der ganzen nördlichen Hemisphäre. Was es damit auf sich hat, erfährt man am besten und präzisesten von Hermann Weiland, der nur drei, vier Hühner-Flugsprünge vom MOTTE-Freilauf-Stall entfernt wohnt, in Ottensens Rothestraße.
Es begab sich also, dass sich Anfang der Achtzigerjahre der Werkzeugmacher Hermann Weiland anhaltend darüber ärgerte, dass eine hässliche Sichtblende aus Bauholz-Latten eine noch hässlichere, von Schrott übersäte Brachfläche gegen die Rothestraße abgrenzte. Ein Biotop für Ratten. Und außerdem huschten dort immer wieder Junkies vom (nomen est omen!) nahegelegenen Spritzenplatz vorbei.
Weiland und Freunde – darunter eine veritable Landschaftsarchitektin mit einem feinen Strich – unterbreiteten dem Bezirksamt Altona eine Nutzungsskizze für die wilde Ecke: ein fein eingegrüntes Areal für Hühner, in nächster Nachbarschaft zu zwei Tagesstätten mit circa 250 Vorschulkindern. Die Stadt, Grundbesitzerin des Geländes, willigte gern ein und lobte das Engagement ihrer Bürger.
Aber das war in den Achtzigern, bevor Ottensen vom Schmuddel-Stadtteil zum angesagtesten Bezirk Altonas aufstieg und damit zum Jagdgebiet von Haien, die ihre Zähne in jede Baulücke schlagen. Mit oder ohne Huhn. Die Stadt hörte den Lockruf des Geldes und plante Überbauung; die Hühner sollten ein kleines Restareal zugewiesen bekommen.
Und so begann nach der Jahrtausendwende das Scharmützel um den MOTTE-Hühnerstall, das wesentlich mit Unterstützung der Lokalpresse zugunsten der Hühner entschieden wurde. Kindergartenkinder und Schüler umliegender Schulen malten ihr jeweiliges Lieblingshuhn – jedes Huhn hat nämlich einen Namen – und demonstrierten mit ihren Eltern («Hände weg von unseren Hühnern!») gegen die schon geplante Lebensraumverschlechterung für Hahn Caruso, Henne Kratzefuß und Junghuhn Begonie.
Die Stadt gab schließlich klein bei, und ihre Repräsentanten mussten sich, mit Federn geschmückt, zur Feier ihrer Niederlage einfinden. Es soll ein schönes, versöhnliches Fest gewesen sein.
Es gab und gibt weitere Krisen. Die gibt es immer. Hungrige «Mitmenschen, die offenbar noch wissen, wie man Hühner schlachtet, bedienten sich nachts», so Hermann Weiland. Ein Steinmarder (Martes foina) veranstaltete ein mittleres Massaker. Und immer wieder gibt es «tragikomische Momente»: Als der alte Hahn endgültig zu alt wurde, um das zu tun, wofür ein Hahn ein Hahn ist, verlangte eine Mutter nach Mutterschutz: «Bitte, erst einmal keinen Nachfolge-Hahn!» Die Hennen müssten sich erholen und nicht fortwährend «getreten werden», man solle mit einem Nachfolger doch «ein halbes Jahr oder so» warten. Dass dieses «Treten» zum Liebesspiel gehört, hat sie nicht interessiert – so viel Natürlichkeit muss dann wohl doch nicht sein.
Entfremdung von Natur und Natürlichkeit und was man dagegen tun kann, ist in den angrenzenden Kindertagesstätten immer wieder Thema. Und die MOTTE-Hühner sind Teil der Antwort. So lernen die Kinder auch, dass der Mensch Hühner isst; und Weiland und Freunde nutzen von Fall zu Fall die Möglichkeit, am offenen Huhn die Entstehung von Eiern zu demonstrieren.
«Die Hühner – wir haben durchschnittlich 22 – sind auch Eier- und Fleischproduzenten. Und sie sind Haustiere, die gefüttert werden müssen und deren Stall und Auslauf man ausmisten muss.»
Hühnermist ist keineswegs der letzte Dreck, er bleibt zu einem Gutteil im System. Als Dünger. Im Frühjahr 2016 haben MOTTANTEN zwischen Hühnerstall und Stadtteilzentrum ein urban gardening-Projekt angeschoben: In hoch gestellten Kunststoffkisten, mit Muttererde befüllt, gedeihen Kräuter und Gemüse, Rohstoff für die social cooking-Gruppe, ergänzt durch Spenden aus den umliegenden Bio-Läden. «Die Idee ist nicht so sehr die alternative Speisung der Fünftausend, sondern eher beim gemeinsamen Kochen gute Nachbarschaft herzustellen», sagt Fabian Berger, der die ersten Hochbeete an die Rothestraße brachte. Wie überhaupt der «vernetzte Nutzen» total angesagt ist: Zum Beispiel wird mit Honig-Erlösen, der von der MOTTE-Imkergruppe einflogen wird, das Hühnerfutter subventioniert. Und Hühnermist – richtig aufbereitet! – düngt die Beete, die im Frühling von den Bienen angeflogen werden.
Die MOTTE-Bienen, von denen manche ein «musikalisches Zuhause» gefunden haben, haben fast so viel Publizität wie ihre unmittelbaren Nachbarn, die Hühner. Derzeit zehn Völker schwirren vom ehemaligen «Mottenburg» (so der Spitznamen für den Teil Ottensens, in dem die MOTTE steht) im Drei-Kilometer-Radius aus: bis ans blütenreiche Elbufer mit seinen Parks und Villen-Gärten und bis zum Park Planten und Blomen.
Aber auch in unmittelbarer Nähe, in blühenden Stadtlinden oder auf bepflanzten Balkonen und Dachgärten finden sie Nahrung, abwechslungsreich und ohne Unterbrechung – anders als ihre Schwestern draußen auf dem Land, das immer noch und immer mehr zur Agrarsteppe degeneriert.
Experten haben ermessen, dass Stadtbienen gesünder sind als Bienen, die auf dem Land regelmäßig ins «Blütenloch» fallen: Ab Frühsommer findet «die normale Landbiene» in so mancher «blütenfrei» gespritzten Landschaft wenig bis zu wenig.
Ganz anders in Städten mit ausreichend Grünanteil. Wenn die «Landbienen» im nahen Schleswig Holsteins, etwa nach der ergiebigen Rapsblüte, hungern und man bis-weilen sogar «zufüttert» muss, besuchen die MOTTE-Bienen und ca. 4.600 andere Hamburger Bienenvölker bunt gesprenkelte Ruderalflächen mit Natternkopf, Wilder Malve, Wegwarte, Seifenkraut und Klatschmohn. Und auch die keineswegs toten Stadtfriedhöfe beleben das süße Geschäft.
Befürchtungen, dass sich stadttypische Abgaskonzentrationen im urban honey niederschlagen, erwiesen sich als unbegründet. Die Honigbienen haben im Lauf der Evolution Fähigkeiten entwickelt, ihre «Beute» rein einzutragen und einzulagern.
Die neuzeitliche Stadtimkerei soll sich – so nachzulesen in Markus Imhoofs Buch More Than Honey – von Frankreich aus über Europas Städte ausgebreitet haben. Und womöglich kehrt die Idee angereichert auch wieder nach Frankreich zurück: In einigen französischen Kleinstädten wurde das MOTTE-Prinzip adaptiert: «Stadtgärtnern mit Bienen und Hühnern».
Le coq n’est pas mort – und dies gilt nicht nur für 2017, dem chinesischen Jahr des Hahns!