Wer sich in der kleinen Ruhrgebietsstadt zwischen Berger-, Bahnhof- und Ruhrstraße umsieht oder gar als Tourist durch das Quartier spaziert, könnte mit Father Brown ausrufen: «Hübsch hässlich haben Sie’s hier.» Eine Reportage über das «Wiesenviertel» in Witten? Zwei Doppelseiten über einen Kiez, wie es ihn in Berlin dutzendweise und fast immer größer und bunter gibt? Und doch, so ehrlich zärtlich wie der englische Priesterdetektiv seine neue Gemeinde, so sehen sicherlich auch viele Wittener ihr junges Kreativquartier. «Jung» – denn vor fünf Jahren gab es nicht einmal ein Wiesenviertel, nur eine Handvoll junger Leute, die «den öffentlichen Raum bespielen wollten», die Theater, Musik, Filme und Partys in leerstehenden Ladenlokalen, auf Dachterrassen und in Tiefgaragen inszenierten, dabei jede Menge Spaß hatten und diesen Spaß unter dem für die Stadt mit dem großen DB-Weichenwerk passenden Namen Stellwerk e.V. institutionalisierten.
Dass das Zentrum der Stellwerk-Aktivitäten dann die Wiesenstraße wurde, hatte mit der Kulturkneipe Knuts zu tun, der ersten nicht mehr nur temporären «Bühne» des Studios für Kultur-Design. Das Ladenlokal passte. Die inhabergeführten Geschäfte im unmittelbaren Umfeld ließen ein über den nackten Kommerz hinausgehendes Nachbarschaftsengagement erhoffen. Und ehe sie sich versahen, entdeckten die «Stellwerker» das Thema «Quartiersentwicklung» als interessante Spielwiese für ihre produktive Fantasie. Und kaum zeigte sich der neue Local-Player mit umstrickten Bäumen und mobilen Gartenelementen im Straßenbild, kam man ins Gespräch: mit der weitherzigen Modistin, den Style-Friseuren mit dem Kirchengestühl vor der Ladentür, dem auf Mittelaltermärkten erprobten Naturtuchhändler, den Secondhandlerinnen mit der Miniaturbühne in der Umkleide. Als der gemeinsam gegründete Unternehmerstammtisch dann die Idee zu einem veritablen Quartiersfest ausgeheckt hatte und ein Name fällig wurde, kam mit dem «Wiesenviertelfest» zugleich ein zuvor unbekanntes urbanes Wesen zur Welt – wohlwollend gefeiert von zuletzt gut viertausend Besuchern aus Witten und seinen Nachbarstädten.
Heute geht man «ins Wiesenviertel», trifft sich, lebt oder arbeitet «im Wiesenviertel», und natürlich bieten auch die Hausbesitzer und Makler ihre Wohnungen oder Ladenlokale ganz selbstverständlich unter der Marke «im Wiesenviertel» an. Und weil die «Stellwerker» um die Frontleute Philip Assauer und Waldemar Riedel in den letzten fünf Jahren nicht müßig waren, reihen sich ihre Events, Gründungen und «Patenschaften» zu einer bunten und gediegenen Perlenkette auf: so das allseits gelobte Nachtasyl – das Off-Theater bespielt Leerstandsimmobilien und Schaufenster vor promenierendem Publikum; die 72hours – als Weltmeisterschaft der bespielbaren Architekturen; der Blumenpott – ein Urban-Gardening-Projekt; die Elterninitiative Voß’scher Garten; das Repaircafé; der vierteljährliche Wochen- und Streetfood-«Tummelmarkt» oder das Anwohnerprojekt Nachbar.Schafft.
Assauer reflektiert seine und die gemeinsame Arbeit so: «Ich habe bis heute ein unheimliches Verlangen, Gemeinschaft zu bilden! Weil da, wo Menschen zusammenkommen, potenziell etwas Neues entsteht. Man kann die Leute nicht zwingen, etwas zusammen zu tun, aber man kann gute Rahmenbedingungen schaffen.» Wie das geht? Durch Verdichtung! «Du musst viele aktive Menschen auf komprimiertem Raum zusammenbringen. Vor allem dann, wenn es um freiwillige, ehrenamtliche Arbeit geht. Deren Währung ist Anerkennung: Ich muss gesehen werden in dem, was ich tue. Je dichter, desto eher wird man gesehen!»
Was sich dann tatsächlich entfalten wird, hängt von den hinzukommenden Mitspielern ab, die, wie Eisenfeilspäne vom Magneten, von einem solchen pulsierenden Stadtbiotop mehr und mehr angezogen werden. Und es hängt ab von den in ihnen lebenden Ideen. Beim [….] raum etwa, einem Café und Coworking-Space für Studenten, Freelancer und Start-Ups, ging es den drei Gründern um genau das, was der Name nennt: einen niederschwelligen Ort zu eröffnen, der, sieben Tage die Woche, von morgens bis in die Nacht, Raum für Konzentration, Kommunikation und Kreativität gibt und dessen geheimes Fluidum der Wunsch «nach schönen und guten Lebensverhältnissen» ist, zu spüren bis in die liebevollen Details der Kaffee- und Essenszubereitung. Oder die three old men, wie sie sich selbstironisch nennen, die das Quartier jahrelang von rechts auf links gedreht und gedacht haben, nach bestmöglicher Vernetzung und Wechselwirksamkeit zwischen kreativen Produzenten und passenden Lokalitäten suchen und unlängst das Format der Sagentage (Vernissage/Midissage/Finissage) erfunden haben. Oder – als aktuell jüngste realisierte Initiative – die vom Nachhaltigkeitsgedanken durchdrungenen neun Gründer des gemeinnützigen Unverpacktladens Füllbar, der, funktional-schön eingerichtet, seinen Besuchern eine weitere Wiesenviertel-Inspiration schenkt.
Wer eine Weile mit den Unternehmern und Gastronomen, den Projektlern oder Künstlern über ihr Quartier gesprochen hat, fragt irgendwann unweigerlich: «Und die Anwohner?» Wie weit ist das Wiesenviertel inzwischen ihr Viertel geworden? «Die Anwohner einzubeziehen ist auch andernorts schwierig», heißt es dann leicht resignativ auf der Akteursseite. Oder auch: «Einer macht was und die anderen lassen sich bedienen. Ziel ist es – hier und auf der ganzen Welt –, die Leute mit reinzuziehen.»
Näher am Geschehen und nicht immer nur in den Hot-Spots des Kreativquartiers findet sich aber durchaus Erfreuliches. «Wir wohnen hier seit zwanzig Jahren, kennen unsere Nachbarn vom Sehen und man grüßt sich, aber durch die Stockrosenaktion (‹die Quartierspflanze›) sind wir ins Gespräch gekommen. Jetzt arbeiten wir daran, dass sich alle Anwohner der Straße zu einem gemeinsamen Fest im Park treffen.» Was für die Anrainer des Voß’schen Gartens gilt, zeigt sich auch anderswo: beim «Frühjahrsputz» vor der Fußpflegepraxis, bei den diversen Mitnahmebücherkisten, beim Fahrradanhänger der Lebensmittelretter. Wo immer ein Wiesenviertelakteur handfest sichtbar wird, ergeben sich Mitmach-Gelegenheiten – und werden ergriffen: «Die sozialen Verhältnisse fangen an zu sprießen und zu gedeihen, und wir können mitmachen, wann immer wir wollen. Das ist großartig!»
Also alles gut im Kreativquartier der kleinen Universitätsstadt? Alles im Umbruch! Denn die erste große Metamorphose – vom Freundeskreis zur Institution – haben die «Stellwerker» zwar längst hinter sich, bei einer nächsten und notwendigen allerdings geht es möglicherweise um die Existenz. Denn während sich das Flaggschiff Knuts samt angeschlossenem Catering-Service selber trägt und manchen Euro für alle übrigen Aktivitäten erwirtschaftet, hängen die Personal- und Fixkosten des Studios für Kultur-Design bislang weitgehend am Tropf der jeweils zeitlich begrenzten Projektfördermittel. Der Ausweg? «Quartiersentwicklung ist ein sperriges Produkt, von dem wirtschaftlich vor allem die Immobilienbesitzer profitieren. Wenn diese Dynamik weiter funktionieren soll, müsste ein Teil der Mehreinnahmen zu uns zurückfließen.»Was nicht geschieht. Die Lösung? «Wir wollten, mithilfe einer Stiftung, die ‹Kernimmobilien› der Wiesenstraße kaufen und – auf der Basis eines genossenschaftlichen Konzepts – nutzen und vermieten. Ein Projekt, an dem wir ein Jahr lang intensiv gearbeitet haben, das vor dem Abschluss stand» und das den «Stellwerken» am Ende vor der Nase weggekauft wurde. «Shit happens», könnte man leichthin sagen, wäre da nicht eine Art Scott-Amundsen-Syndrom. Denn so kurz vor dem mit heißem Herzen anvisierten Ziel auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen zu werden, kostet ein Maß an Mut und Energie, das aufzubringen keineswegs selbstverständlich ist.
Wie es weitergeht? Es geht weiter! Mit diesem Stellwerk oder einer aus seinem Geist herausgeborenen neuen Institution. Mit einem bereits angedachten Wiesenviertelverein, der die verstreuten Akteure von unten herauf bündelt, ihre Impulse aufgreift und unterstützt. Mit einer Universität, die mehr und mehr in die Stadt hineinzuwirken beginnt und eine für das Quartiersprojekt geradezu ideale kulturpraktische Fakultät in ihrer Mitte hat. Mit dem Kooperationspartner Projektfabrik, einem deutschlandweit leuchtenden Social Entrepreneur, dessen Quartiersensemble Frederick schon jetzt die Roxi-Bühne des Knuts bespielt. Und der seinen Heimatstandort Witten und das Wiesenviertel immer mehr als Ideallabor für die Erprobung neuer sozialkünstlerischer Aktivitäten erkennt und nutzt.