Am strahlend blauen Himmel ziehen kleine weiße Wolken vorüber. Am Wegesrand steht hier und da ein Kruzifix oder eine Madonna entlang der Bahnstrecke, die an Feldern, Wiesen und Orten mit Zwiebelturmkirchen vorbeiführt. Als in Petershausen auch noch eine Frau im Dirndl den Zug besteigt, muss ich schmunzeln. Ist’s schlicht bayerische Postkartenidyllwirklichkeit oder das Bestätigtwerden von Vorurteilen, hinterfrage ich mich und die Szenerie, während die muntere Dirndldame am Telefon recht lautstark erklärt, dass sie extra früher heimkomme, um mehr Zeit für den Besuch der Gartenschau in Pfaffenhofen zu haben.
Aha, wir haben also das gleiche Ziel. Fast das gleiche. Zur Gartenschau will ich nicht, nach Pfaffenhofen aber sehr wohl, denn in dieser rund 25.000 Einwohner zählenden Kreisstadt im Regierungsbezirk Oberbayern, die amtlich «Pfaffenhofen an der Ilm», im Heimatdialekt nur «Pfahofa» genannt wird, ist seit ein paar Jahren künstlerisch etwas in Bewegung gekommen. Und diese Bewegung hat mit einigen Einheimischen zu tun, die in dem beschaulichen, 1438 zur Stadt erhobenen Ort aufwuchsen, denen es ab den Pubertätsjahren dort allerdings zu behaglich und zu eng wurde. Sie verließen die einst von einer Mauer mit 17 Türmen und vier Toren umschlossene Stadt, um außerhalb ihr Glück, vor allem aber die erhofften grenzenlosen Möglichkeiten der Kunst zu suchen. Doch sie kamen und kommen wieder: manche nur temporär, aber regelmäßig – andere hingegen stationär mit Frau und Kindern.
Mit zwei seit der Jugend befreundeten Pfahofara treffe ich mich an diesem weiß-blau sonnigen Tag: Der eine ist der Maler Christoph Ruckhäberle, der als Meisterschüler von Arno Rink seit Kurzem als Professor für Malerei und als Nachfolger von Neo Rauch an der renommierten Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig lehrt, an der er nach Stationen in Valencia und Los Angeles auch selbst studierte. Zudem betreibt er in Leipzig das Luru Kino in der Spinnerei und leitet den Lubok-Verlag, der überaus schöne, sorgsam gemachte Kunstbände publiziert. Der andere ist der Schriftsteller Steffen Kopetzky, dessen letztes Buch Risiko Denis Scheck in seiner Sendung Druckfrisch in einen «regelrechten Leserausch versetzte» und der wieder in Pfaffenhofen wohnt und dort sogar ein politisches Amt, das des ehrenamtlichen Kulturreferenten, übernommen hat.
Für Steffen Kopetzky war das Bedürfnis nach Mitgestaltung und Veränderung der bestehenden Gegebenheiten ein drängendes, da er nach Rückkehr hinter die Stadtmauer mit seiner Familie ein Zuhause mit Zukunft aufbauen wollte. Wie sich mitgestalten und verändern lässt, war als konkrete Idee für Christoph Ruckhäberle aus den eigenen Erfahrungen schnell erdacht und in Steffen Kopetzky als Feuer entfacht: «Anknüpfend an unsere Jugendzeit kamen wir wieder ins Spintisieren, was man alles so machen könnte», erzählt Ruckhäberle, der auf den ersten Blick fast scheu wirkt, auf den zweiten und dritten seine Sätze aber mit einem verschmitzten Lächeln untermalt, das erahnen lässt, welche Lust am Widerstand die beiden Freunde schon damals teilten. «Ich erzählte Steffen von den Ausstellungen in vielen kleinen Kunstvereinen – und dass diese Reisen mit Bildern in die unterschiedlichsten Provinzen für mich und meine Malerkollegen wichtige Erfahrungen waren. Das Einfachste sei es daher, selbst einen Kunstverein zu gründen und die Verantwortung und Initiative zu übernehmen. So könne man außerdem ohne Abhängigkeit darüber entscheiden, was man wie macht.» – «Nur ein halbes Jahr später rief ich Christoph an und sagte: ‹Du musst jetzt nach Pfaffenhofen kommen, die Gründungssitzung steht an!› Ich hatte fünf andere Menschen – sieben müssen es zur Vereinsgründung nämlich sein – gefunden. Wir konnten tatsächlich loslegen», ergänzt Steffen Kopetzky, und man merkt ihm die Freude darüber immer noch an. Ihm, der einst im Sonntagsanzug des Vaters und meist mit einem Beuyshut auf dem kahl geschorenen Schädel und Büchern von Arno Schmidt in der Tasche durch die Straßen seiner Heimatstadt lief und nichts als Nichts dort fand. Ihm, der zum Studium nach Paris ging, dort aber kaum studierte, der als Schlafwagenschaffner durch Europa reiste und der in München und schließlich in seiner zweiten Heimat Berlin – noch heute hat er in Neukölln eine kleine Wohnung, einen Weltstadtfluchtort – das Studium der Philosophie und Romanistik abbrach und gefeierter Schriftsteller wurde (für Einbruch und Wahn. Ein Versuch über die Umtriebe der Anderen erhielt er 1997 u.a. im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs den Preis des Landes Kärnten).
Aus dem Spintisieren der einst provokanten «Außenseiterjungs» und heute erfolgreichen «Kunstmänner» wurde Wirklichkeit: Vor zehn Jahren kam es zusammen mit der Kunsthistorikerin Karin Probst, dem Druckereibesitzer Peter Riegler, dem Rechtsanwalt Martin Rohrmann, dem Bildhauer und Architekten Roland Sailer und dem Handbuchbindemeister Klaus E. Stuhlreiter zur Gründung des Neuen Pfaffenhofener Kunstvereins. Seither lässt dieser Kunst, Literatur und Musik in der Stadt selbst und für Besucherinnen und Besucher über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus lebendig werden. Und zwar auf höchstem Niveau, was nicht nur an den Ausstellungshighlights mit bekannten Namen des Kunstbetriebes liegt (beispielsweise Beuys und die Demokratie oder Markus Lüpertz – Mykenisches Lächeln), sondern vor allem an der Leidenschaft und Hingabe, mit der jedes einzelne Projekt konzipiert und durchgeführt wird.
Zuletzt war dies bei Ladder to Heaven – Zeitgenössische Originalgrafik zu erleben, einer Ausstellung mit namhaften Gegenwartskünstlern wie Tilo Baumgärtel, Rosa Loy, Neo Rauch, David Schnell und Matthias Weischer, die parallel zur Gartenschau stattfand. Feinsinnig und programmatisch heißt es dazu in der Begleitbroschüre: «… auch wenn natürlich nicht vorwiegend Blumen oder Pflanzen das Thema der Ausstellung sein werden, so möchten die Kuratoren dennoch auf ihre Weise auf das überwältigend vielfältige Naturerlebnis, das die Gartenschau bieten wird, eingehen und mit den Mitteln der Kunst eine heitere Antwort formulieren. Natur und Kunst sollen hier nicht als Gegensätze verstanden, sondern in ihrer entscheidenden Gemeinsamkeit gezeigt werden: dass sie dort am lebendigsten und schönsten erscheint, wo sie vielfältig ist.»
Vielfältig waren in der Anfangszeit auch die Ausstellungsorte, ganz so wie es Christoph Ruckhäberle in Berlin, Leipzig und andernorts selbst erlebt oder initiiert hatte: leerstehende Häuser, Kneipen oder Läden in der Stadt wurden zu Galerien auf Zeit – die erste Ausstellung etwa fand auf vier Etagen im ehemaligen Schuhhaus Singer statt. Seit 2009 ist der Neue Pfaffenhofener Kunstverein in der ehemaligen Zahnradfabrik des Maschinenbauers Herion beheimatet und kann sich in einer sanierten, lichthellen Halle auf rund 800 Quadratmetern entfalten und von hier aus in die Stadt und Kulturszene hineinwirken.
Dass es eine ehemalige Zahnradfabrik ist, erscheint wie ein positiv-passendes Omen, denn die Einzelteile, die einzelnen Menschen, die sich hier engagieren, greifen ineinander und treiben die Ideen voran – so wie Dorle Kopetzky, die neben ihrer Agentur weissundblau mit Freude und Esprit die Öffentlichkeitsarbeit des Kunstvereins leitet. Auch der Verein selbst präsentiert sich nicht nur in der Kunsthalle, sondern ist vielfältig mit dem Leben in der Stadt verzahnt: ob im Rahmen des Kulturweges als Mitinitiator der Urban Art Fassadenmalerei, die kahle Fabrik- und Hauswände in farbige Kunstwerke verwandelte, oder als Betreiber des Kreativquartiers in der Alten Kämmerei, in dem über ein Dutzend Kreative aus den Bereichen Graphik und Design, Restauration, bildender Kunst und Musik leben und arbeiten. Einer von ihnen ist der Maler und Musiker Philipp Brosche, der jüngst die Fassade des Kreativquartiers als expressives Kunstwerk gestaltete und dessen sehenswerte Arbeiten dort gezeigt werden. 2016 wurde ihm zudem der Kulturförderpreis der Stadt Pfaffenhofen verliehen, weil er sich in bemerkenswerter Weise und mit «spielerischem Ernst mit seiner ländlichen Heimat auseinandersetzt».
«Heimat» – dieser oft so schwer beladene, manchmal überhöhte oder auch politisch missbrauchte Begriff musste mir wohl an diesem weiß-blauen Tag noch irgendwo begegnen, bekam durch Philipp Brosche aber eine gewisse Leichtig- und Lässigkeit. Dass der Begriff zudem Energie ausstrahlen kann, wenn man ihn von einem begrenzten Ort löst und auf Menschen und Freunde, auf Inneres und Tätiges überträgt, machte dann Steffen Kopetzky deutlich. Für den ganz real in die alte Heimat zurückgekehrten Schriftsteller, der beim Blick in sein turmhoch mit Büchern gefülltes Schreibzimmer sein geistiges Zuhause in Texten und Worten hat, gehört nämlich auch das «Einmischen und Eingreifen zu dem, was einem Heimat gibt. Dieses Gestaltenkönnen, Stadtrat sein, zu den Stadtvätern zu gehören, anderen Leuten Räume zu schaffen, ihnen irgendetwas zu ermöglichen und zuzuschauen, wie sie etwas daraus machen. Das ist auch Heimat.» Ja – und davon ist in Pfahofa überall etwas zu spüren!