Pellworm, nach Sylt und Föhr die drittgrößte Nordfriesische Insel, ist per se ein Sehnsuchts- und Urlaubsziel. Weil es ein Meer-Ort ist, über dem sich Nolde-Himmel wölben, auf dessen Felder, Waldflecken und Wiesen malerische Farben getupft sind, an manchen Nachmittagen gekrönt von einem Tiefschwarzblau der Püttenwasser, das so unirdisch ist, dass einem der Atem stockt. Weil ein anderer Wind weht, der andere Wellen ins Reetgras schreibt, in Silberweidenkronen und ins reife Korn.
Aber natürlich ist das alles nicht pellwormexklusiv. Und im Übrigen sucht der Weitgereiste manche Nordseeerlebnisse hier vergeblich. Denn Pellworm ist nicht schick oder gar mondän, nicht idyllisch oder malerisch, nicht vogelwild oder melancholisch. Es gibt keine weiten Sandstrände, keine Kiefernwälder und keine Promenaden, keine Strandbars und maritimen Shoppingzeilen. Und selbst die Nordsee zeigt sich erst, wenn man die Köge hinter sich lässt und auf den Deich steigt.
Nein, Pellworm ist einfach nur «normal», ist die Insel «von nebenan» – so wie das der Stadtteil neben unserem Stadtteil ist oder das Nachbardorf. Und normal sind – zum Glück – auch seine Bewohner, die «Einheimischen», denen man auf Pellworm tatsächlich häufiger in ihren eigenen, unverfälschten Biotopen begegnen kann als dort, wo der touristische Taler schneller rollt und lauter in der Kasse klingelt. Hier, auf den Nebenstraßen des Küstentourismus, erkennen die Hiesigen und die Gäste einander leichter wieder, dauern die Gespräche am Verkaufstresen, am Wirtshaustisch, im Fahrradverleih gelegentlich genau den Augenblick länger, den es braucht, um sich auch als Fremder heimisch zu fühlen und wohl in der eigenen Haut. Denn es ist selbst zur Hauptsaison alles überschaubarer hier, weniger rummelig und hektisch. Die Insulaner bleiben gelassen und lassen ihre Gäste in Ruhe. Wen wundert es da, wenn viele Besucher den geheimen Insel-Slogan in Wort und Tat bestätigen: «Hierher kommt man nur einmal – oder immer wieder!»
Reise in eine andere Zukunft
Dass man auch gleich ganz dableiben kann und dass Pellworm so «normal» dann doch wieder nicht ist, zeigt sich im Gespräch mit Uwe Kurzke, Walter Fohrbeck und Mathias Schickotanz, drei von anfangs etwa einhundertdreißig Alt- und Neu-Pellwormern, die sich vor knapp dreißig Jahren auf eine Reise der ganz anderen Art machten. Eine Reise, deren Ende noch immer nicht in Sicht ist. Kurzke trifft, als frisch ins Amt gekommener Inselarzt, Ende der 80iger Jahre auf ein Pellworm der Depression(en): eine Jugend, die ihre Chancen auf dem Festland sucht, eine Landwirtschaft, die immer weniger Familien ernährt, einen stagnierenden Tourismus und einen drohenden «Nationalpark Wattenmeer», der die vehement proklamierte «Freiheit für die Friesen» einzuschränken droht. «Da war eine pessimistische Stimmung, die hat man überall gespürt. Aber wenn du von außen reinkommst, siehst du eher das Potenzial!» Und das sieht nicht nur der neue Inselarzt.
Denn – es ist an der Zeit! Am Kristallisationskern des Nationalparkkonflikts kommen sie zusammen und in Bewegung: eine Handvoll Landwirte, die nicht länger sich und ihr Land vergiften wollen, Krabbenfischer und Lehrer, Gastwirte und Angestellte, Kaufleute und Hausfrauen und nicht zuletzt Feriengäste, die über die Jahre mit der Insel verwachsen sind. Ihr grundlegender Gedanke: «Nachhaltige Landwirtschaft, sanfter Tourismus, Ausbau erneuerbarer Energien und Schutz des Wattenmeers waren aus unserer Sicht durchaus vereinbar.» Was der Alt-Pellwormer und Berater für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung beim Europäischen Parlament, Hannes Lorenzen, formuliert, erscheint 1990 einem guten Zehntel der Pellwormer Bevölkerung so einleuchtend und aufregend, dass sie den Verein Ökologisch Wirtschaften gründen und sich auf den beschwerlichen Weg der Realisierung machen.
Dabei ging es nicht primär um Politik. «Wir wollten keine Partei gründen, wir wollten Anstöße geben und etwas ändern!» Wenn Claus Zetl heute auf die Anfänge des Vereins und der «Ökologischen Wende» zurückblickt, ist die dabei mitschwingende leise Verbitterung nicht zu überhören. Zetl, seinerzeit durch einen lebensgefährlichen Spritzunfall sensibilisiert, hatte seinen Schweinemastbetrieb als einer der ersten Landwirte umgestellt und manche Anfeindung zu erdulden: «Vor allem die Kinder haben in der Schule sehr darunter gelitten. Wir waren die ‹Körnerpicker› und ‹Kloogshieter› (Klugscheißer) von denen man sich schon gar nichts sagen lassen wollte.»
Tatsächlich ging es den Vereinsgründern um echt kluge, den Inselverhältnissen angemessene Lösungen realer Aufgaben und Probleme. Und wenn sie in den Arbeitsgruppen über «Fremdenverkehr», «Energie», «Landwirtschaft» und «Naturschutz» berieten, kam Handfestes dabei heraus: Die Mitgründung der europäischen Ecoislands-Gruppe und die daraus hervorgegangene Wollconnection mit der estnischen Insel Hiiumaa, samt dem legendären Troyer Pell-Over. Es entstand ein Bio-Hofladen, ökologische Fahrradtouren für Inselgäste wurden organisiert und erste Gehversuche zur Elektromobilität unternommen. Und vor allem ein tragfähiges, zuletzt vom «Ableger-Verein» Watt und Mehr weiterentwickeltes Energiekonzept, mit dem Ziel einer autarken Inselversorgung. Oder, ebenfalls ein Watt-und-Mehr-Produkt, ein Label für klimafreundliche Ferienwohnungen.
«Der Verein hat immer versucht, auch scheinbar nicht verwandte Themen zusammenzuführen. Doch auf Pellworm war man nicht gewohnt, ganzheitlich und nachhaltig zu denken.» Walter Fohrbeck schon! Als Museums- und Archivleiter auf die Insel gekommen, stand und steht er für den kleinen und feinen «Brain-Drain-Gegenstrom» vom Festland auf die Insel. Und für einen Blick auf die sozialen Prozesse, der zugleich zuspitzen und besänftigen kann. «Natürlich standen in den Reaktionen des ‹Insel-Establishments› stets Personen im Vordergrund, nicht die Sache. Aber das kann auch positiv sein. Denn auf Pellworm weiß man, wer sich kümmert, wem etwas am Herzen liegt. Und wenn dann jemand wie Uwe Kurzke, der schon viel in Gang gebracht und umgesetzt hat, etwas Neues initiiert, kommen die Dinge ins Rollen, ohne dass dazu lange argumentiert werden muss.»
Der Respekt wächst!
Natürlich hat es, insbesondere in der Nahperspektive einzelner Protagonisten, in den über fünfundzwanzig Jahren reichlich Kampf und Krampf gegeben, unerwartete Hindernisse und zerbrochene Hoffnungen. Und doch: Was wäre Pellworm heute ohne die Arbeit des Ökovereins? «Wir haben mehr erreicht, als manche Mitglieder sehen können.» Mathias Schickotanz, heute Berater für energieeffizientes Bauen, war zuerst Praktikant beim Verein Ökologisch Wirtschaften und später einer seiner Geschäftsführer. «Dass Pellworm heute eine CO2-Senke ist, und, durch die Windkraft-, Photovoltaik- und Biogasanlagen, eine 100-Prozent-Regenerative-Energie-Region, geht wesentlich auf die Arbeit des Vereins zurück – auch wenn die Betreiber insbesondere beim Biogas nicht immer unseren wohl abgewogenen Empfehlungen gefolgt sind.»
Hauke Zetl, Hofnachfolger des Zetlschen Biolandbetriebs, geht noch weiter: «Es wird nicht immer besonders ökologisch mit den Ressourcen umgegangen. Pellworm ist Grünlandstandort. Aber weil das Biogas so hoch subventioniert wird, wurde teilweise massiv Mais angebaut. Auch große Teile der Getreideernte gehen in die Anlagen. Aus der Sicht der Bodenfruchtbarkeit ist das viel zu viel Aufwand für das bisschen Energie und viel zu kurz gedacht!» Auch zum Thema Windkraft hat der junge Landwirt eine dezidierte Meinung: «Ich habe nichts gegen Windkraft. Gegen deren soziale Einbindung schon! Denn die einen verdienen Geld damit, die anderen gucken drauf und hören den Lärm. Windkraft muss Allgemeingut sein.»
Während seine Eltern viel Zeit und Energie in die Vereinsarbeit investiert haben, sieht Hauke Zetl für sich einen anderen Weg: «Ich will niemanden zu seinem Glück zwingen. Ich mach’ einfach und zeige, dass es besser geht. Auch durch Technik. Ein neuer Schälpflug für die schonende Bodenbearbeitung, ein effizienterer Messerbalken oder eine Drillmaschine, mit der ich inzwischen auch für die konventionellen Kollegen aussäe. Die lachen uns zwar noch immer aus, aber der Respekt wächst!» – Und noch etwas anderes ist über die Jahre gewachsen. «Ich bin hierher gekommen und auf Menschen getroffen, die für dieselben Ideen gebrannt haben. Daraus sind tiefe Freundschaften entstanden, die heute noch halten.»
Wie es weitergeht? «Die Zeit arbeitet für uns – ob uns aber genug Zeit bleibt?» Der produktive Pessimismus, der durch Mathias Schickotanz’ Worte geht, findet sich auch bei den anderen Aktiven. Hannes Lorenzen: «Unsere Situation ist zugleich die Menschheitssituation. Wenn wir es auf Pellworm nicht schaffen, uns auf gemeinschaftliche Lösungen der Nachhaltigkeit zu einigen, wüsste ich nicht, wie die große Politik das schaffen sollte.» Uwe Kurzke: «Allen Widerständen zum Trotz – es gibt einen roten Faden und der heißt: gemeinsames Leben. Und mit einer gehörigen Portion Mut, Toleranz und Kompromissbereitschaft können wir jeden Tag aufs Neue zeigen: Ey Leute, es geht!»