Stille. Niemand spricht ein Wort. Alle scheinen nur Auge, nur Sehsinn zu sein. Wer Staunen in ein Bild bannen wollte, hätte in diesem Moment in der rund 120 Kilometer nördlich von Lissabon gelegenen Kleinstadt Batalha unzählige Motive zur Auswahl.
Auch ich bin eine der Sprachlosen, der Staunenden – auch meine Augen tasten suchend und begeistert nach einem Anhaltspunkt und sind durch die Fülle von Hunderten, nein, Tausenden Ranken und Schleifen, Bögen und Drehungen wie in einen Taumel versetzt. War das mächtige Dominikanerkloster von Batalha, das Mosteiro de Santa Maria da Vitória (Kloster der heiligen Maria vom Siege), in seinem spätgotischen Stil mit zarten Spitzbögen, verzierten Strebepfeilern und unzähligen Türmchen schon eine visuelle Herausforderung der schönen Art, so sind die im Osten der Klosterkirche gelegenen Capelas Imperfeitas (die Unvollendeten Kapellen) eine optische Überforderung, der man sich in den ersten Minuten einfach nur hingeben kann.
Wie ein Tanz inmitten ornamentaler Formen und zu Stein gewordener Bewegungen ist es, wenn man den Blick in die Höhe richtet und sich im Zentrum des Oktogons einmal um die eigene Achse dreht.* Zwar sind einem die Gesetze der Schwerkraft bewusst und doch glaubt man bei jeder Drehung dem Himmel etwas näher zu kommen. Alles strebt empor. Will himmelwärts.
Der Himmel ist – und dies verstärkt die besondere Atmosphäre des Ortes – kein in Blau und Gold kunstvoll von Menschenhand geschaffenes Kuppelgewölbe. Nein. Es ist jenes mal wolkenverhangene, mal strahlend opalblaue und hin und wieder von Vögeln erfüllte Firmament, das sich auch sonst über der rund 9.000 Einwohner zählenden Stadt ausbreitet.
Eine mir noch nicht lange vertraute Stimme unterbricht meinen Tanz. «Man müsste sich hier einmal bei Vollmond mit den Sternen um die Wette drehen.» Gonçalo Oliveira lacht, und sein Lachen verhallt an den unzähligen Säulen und figurenleeren Nischen mit pflanzlichen, maritimen und exotischen Motiven. «Begleiten Sie uns doch. Ich erzähle gerade einer kleinen Gruppe die Gründungsgeschichte des Klosters und meiner Stadt.»
Eigentlich bin ich keine ausgesprochene Freundin von Führungen. Lieber lese und erkunde ich selbst. Bei Gonçalo Oliveira aber mache ich gerne eine Ausnahme, da wir uns zuvor schon fast zwei Stunden in seinem Laden A Loja do Caminho, in dem er Ungewöhnliches und Gängiges von Kunsthandwerkern aus der Region verkauft, über so vieles unterhalten haben. Der ehemalige KFOR-Soldat hat – die Zeit und die Erlebnisse im Kosovo haben das Ihre dazu beigetragen – seine Träume selbst in die Hand genommen, sie nicht den Entscheidungen anderer überlassen und sich selbstständig gemacht. «Wir können nicht immer darauf warten, dass andere für uns die Möglichkeiten schaffen. Hier in Portugal ist es wirtschaftlich nicht immer einfach. Das stimmt. Aber es gibt viel Schönes und Wertvolles hier. Wir müssen nur hinschauen und uns darum kümmern, statt unsere Zeit mit Konflikten und Neid zu vergeuden.» Und so kommt es, dass ein ehemaliger Soldat nicht nur Bilder, Keramik, Schmuck und allerlei anderes verkauft, sondern auch begeistert, kundig und leidenschaftlich Kulturführungen anbietet, und zwar in einer Stadt, deren Name übertragen «Schlacht» bedeutet und deren Gründung mit jenem Kloster begann, in dem auch Infante Dom Henrique, Heinrich der Seefahrer, seine letzte Ruhestätte fand.
Die Geschichte des Klosters, das 1983 von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde, nimmt ihren Anfang im Ende eines anderen, nämlich im Tod des portugiesischen Königs Fernando I. im Jahr 1383. Da er keinen männlichen Nachkommen hinterließ und Beatriz, seine einzige Tochter, mit dem König von Kastilien vermählt war, streckte Spanien – schon lange erpicht auf die Ländereien – gierig die Finger nach der Krone Portugals aus. Als João de Aviz, Fernandos unehelicher Halbbruder, die Geschicke des Landes in die Hand nehmen wollte, war es die königliche Witwe Leonore selbst, die aus Sorge um den eigenen Machtverlust ihren spanischen Schwiegersohn zu Hilfe rief. Doch sie hatte die Rechnung nicht mit den selbstbewussten portugiesischen Cortes (Vertreter aus Adel und Klerus) gemacht, die um die Unabhängigkeit ihres Landes und ihre eigene Unabhängigkeit fürchteten und daher am 6. April 1385 João in Coimbra zum König von Portugal ernannten, um so der spanischen Krone zu entkommen. Wer aber Spaniens Eroberungswillen in dieser Zeit kennt, der weiß, dass Kastilien diesen «Ersatzkönig», dessen Krönung den sicher geglaubten Landgewinn zu vereiteln drohte, nicht einfach hinnehmen konnte – und noch weniger hinnehmen wollte. Eine gewaltige spanische Streitmacht rückte bald siegesgewiss gegen ein kleines portugiesisches Heer vor, dem weder die Verstärkung durch 2000 französische Ritter, noch die Ernennung des strategisch geschickten Nuno Álvares Pereira zum Feldherrn (sein Reiterstandbild thront auf dem Vorplatz des Klosters) bessere Chancen zu verschaffen schienen. Nach einigen kleineren Scharmützeln war die entscheidende Konfrontation der beiden Heere unvermeidbar, deren Ausgang nur noch ein Wunder zugunsten Portugals verändern konnte. João flehte am Tage vor Mariä Himmelfahrt des Jahres 1385 die Jungfrau um Hilfe an und schwor ihr den Bau eines Klosters ohnegleichen, wenn sie ihm und seinen wenigen Mannen zum Sieg verhelfen würde.
«Ob es die Hilfe der Jungfrau Maria oder das von Pereira strategisch geschickt ausgewählte Schlachtfeld bei Aljubarrota, die treffsichere Unterstützung der Elite-Bogenschützen des Herzogs von Lancaster oder der unerschrockene Todesmut der Portugiesen war, was letztlich zum Sieg führte, können Sie sich selbst überlegen», merkt Oliveira mit einem Augenzwinkern am Ende seiner Einführung an. «So oder so, ob mit himmlischem Beistand oder durch irdische Raffinesse: 1387/88 wurde mit dem Bau des Klosters begonnen, das zum Sinnbild eines in Portugal einzigartigen Architekturstils werden sollte und die besten Baumeister und Steinmetze aus ganz Europa beschäftigte.»
Damalige «Stararchitekten» wie Afonso Domingues und später David Huguet prägten die Bauten, deren Stile von der Hochgotik über die in Portugal einzigartige Manuelinik bis zur Renaissance reichen. Während Domingues nach dem Vorbild der französischen Zisterzienserarchitektur den Grundrissplan (in der Form eines nach Osten ausgerichteten Schlüssels) erarbeitete, führte Huguet Elemente des englischen Perpendicular Style ein, schuf die Capela do Fundador (die Grabkapelle der Stifter) und begann die Capelas Imperfeitas. «Batalha wurde unter João I. und seiner Frau Philippa von Lancaster – ihr Sarkophag, der sie für alle Zeiten händchenhaltend zeigt, steht in der Capela do Fundador – und ihren Nachfolgern zum Aushängeschild der damaligen Klosterarchitektur», erzählt Oliveira. «Aber wir wissen ja: Nichts hält ewig – außer manchmal die Liebe.»
Ende des 15. Jahrhunderts stagnierten die Arbeiten am fast fertigen Bau, die Geschichte Portugals aber hatte im wahrsten Sinne des Wortes Wasser unten den Kiel bekommen. Manuel I., der «Glückhafte», war König von Portugal geworden, und das «Século d’Oro», das goldene Jahrhundert der großen Entdeckungen zu See, hatte begonnen. «Portugal war überall, und überall waren Portugiesen», fasst Gonçalo Oliveira den Entdeckerdrang seiner Vorfahren zusammen und ergänzt: «Unser kleines Portugal am Rande Europas wurde für kurze Zeit Weltmacht, und Lissabon galt als schönste und glänzendste Stadt der damaligen Welt, der nur noch Venedig ebenbürtig war.»
Auch Batalha erstrahlte zunächst in diesem Glanz, verblasste im Lauf der Jahre aber im Schatten des neuen Zentrums. König Manuel I. – auf den der prunkvolle und überreich an Verzierungen geprägte Stil der Manuelinik zurückgeht – ließ anfangs seinen besten Baumeister, Diego de Boytaca, auch das Kloster in Batalha im neuen Stil ausschmücken, der Orient und Okzident architektonisch verbindet. Dann aber wollte er in Lissabon sein eigenes vollkommenes Kloster zu Ehren des Heiligen Hieronymus, das Mosteiro dos Jerónimo, erschaffen und zog die Gelder und Künstler aus Batalha ab.
Und so kam es, dass die Bauarbeiten und Umgestaltungen am Klosterkomplex der siegreichen Gottesmutter nach fast 150 Jahren Bauzeit an entscheidenden Stellen unvollendet blieben. Vielleicht aber lässt gerade das sie für uns Besucher heute so vollendet erscheinen, wenn wir staunend in ihrer Mitte «tanzen» und uns zugleich die Inschrift am Portal zu Herzen nehmen: «Leauté Faray, Tã ya Serey» steht dort in mehrfacher Wiederholung – «Ich werde aufrichtig sein, solange ich lebe.»