Die Schwäbische Alb – ein Ronja-Räubertochter-Land im Süden Deutschlands. Karstige Schluchten, Burgruinen, Wasserfälle, weite Wälder, rauhe Hochebenen und – wundervolle Höhlen. Sechs davon – im Blaubeurer Urdonautal und dem Tal der Lone gelegen – haben seit Juli 2017 den Welterbestatus der Unesco. Hier wurden die ersten Belege für ein künstlerisches Schaffen des Menschen gefunden. Die Objekte aus der Eiszeit erzählen viel, denn sie zeugen von einem großen Schritt im Werden der Menschheit. Gleichzeitig geben sie Rätsel auf. Eine Annäherung an das Geheimnis der ersten Kunst.
Wie muss es gewesen sein, vor 40. 000 Jahren auf der Erde zu stehen? Irgendwo in unseren Breiten, irgendwo in Mitteleuropa. Was für eine Atmosphäre wäre zu spüren? Wie nah wäre der Himmel? Wie klar die Luft? Wie groß die Stille? Welche Tierlaute? Wie laut das eigene Wort? Die Geräusche der Schritte auf dem Tundraboden. Auf dem Geröll der Felsen. Der Duft der zahlreichen Kräuter in den kurzen Sommern. Nachts der Sternenhimmel. Was für ein Sternenhimmel! Und tags, vielleicht – aber nicht sehr wahrscheinlich – irgendwann, irgendwo ein Grüppchen Menschen. Kleine Punkte im weiten Land, in einer sonst so gut wie menschenleeren Welt.
Der Mensch erscheint im Aurignacien. So wird die Zeit von ungefähr 43.000 bis 34.000 Jahre vor heute genannt. In diesem Zeitalter während der letzten Eiszeit kommen die ersten Menschen nach Mitteleuropa. Es sind anatomisch moderne Menschen, wie man unsere Vorfahren heute in Abgrenzung zum Neandertaler nennt. Menschen, gebaut wie wir, ausgestattet mit allen Sinnen und motorischen Fähigkeiten, die auch wir haben. Die Gletscher der Alpen ragen damals bis über den Bodensee in den süddeutschen Raum hinein und formen dort die Landschaft. Auf der Schwäbischen Alb, am Rande des vereisten Voralpenlandes, finden sich verhältnismäßig gute Lebensbedingungen. Nicht zuletzt aufgrund der vielen Höhlen, die es hier gibt. Sie bieten Schutz in den langen und extrem kalten Wintern. Für kleine Gruppen von Jägern und Sammlern wird die Alb zum Lebensraum. In dieser Zeit vollzieht sich etwas unter den Menschen. In dieser Zeit entsteht etwas völlig Neues.
Eine Frauengestalt, ein Löwenmensch, ein Wasservogel, kleine Mammuts, Pferde, ein Fisch und andere Figuren erzählen davon. Man hat sie bei Grabungen in den Höhlen des Ach- und Lonetals am südlichen Rand der Alb gefunden. Nach dem aktuellen Stand der archäologischen Forschung handelt es sich um die ältesten Kunstgegenstände der Welt. Aus den Erdschichten der Höhlen kamen auch Flöten zum Vorschein, gefertigt aus Mammutelfenbein und Vogelknochen. Es sind die ersten bekannten Musikinstrumente der Menschheit.
Die kleinen Objekte weisen auf etwas Großes. Sie bezeugen den Schritt hin zu einer Kreativität, die nicht nur auf das Überleben ausgerichtet ist, indem sie Werkzeuge und Waffen erfindet. Diese Kreativität geht über die direkte materielle Nützlichkeit hinaus. Fantasie wird sichtbar. Auch wenn wir über die konkrete Bedeutung der Figuren und Flöten nur spekulieren können, kann man doch festhalten, dass sie Ausdruck einer Aktivität sind, die die geistig-seelischen Bedürfnisse des Menschen anspricht und nährt. Und ist nicht genau das eines der Dinge, die den Menschen ausmachen? Dass er sich nicht nur physisch, sondern auch geistig ernähren will und kann? Dass er Kultur erschafft und pflegt?
«Wo der Mensch wurde!», so wirbt das Urgeschichtliche Museum Blaubeuren inmitten jener Gegend, die wir heute als die Wiege der menschlichen Kultur ansehen können. In der Nähe des Blautopfs, der sagenhaften Quelle der Blau, und nicht weit vom Hohle Fels, einem der bedeutenden Fundorte, hütet das Museum die älteste Kunst der Menschheit. Sich ihr zu näheren, ist eine Annäherung an unsere Ursprünge. – Die Reise in die Eiszeit beginnt in der mittelalterlichen Kapelle des Heilig-Geist-Spitals Blaubeuren mit ihren wunderbaren Fresken von 1430. Sie bildet den Eingangsbereich des Urgeschichtlichen Museums, das in den Räumen des ehemaligen Spitals untergebracht ist. Szenen aus dem Leben der heiligen Elisabeth, christliche Darstellungen und Symbole, die sich ohne Mühe deuten lassen. Wie nah selbst das Mittelalter noch wirkt, wenn man zu Figuren geht, die vierzig Jahrtausende alt sind. Eine Tür weiter steht man in der materiellen Lebenswirklichkeit der Jäger und Sammler. Anschaulich wird in mehreren Räumen das Leben in der Eiszeit dargestellt. Eine Treppe aufwärts tönt hell und lebendig das Spiel einer Flöte aus Schwanenknochen. Hier taucht man in die geistige Welt des Aurignacien ein. Die Urkultur erscheint in Form von zahlreichen Tierfiguren, die aus Mammutelfenbein geschnitzt wurden. Bär, Mammut, Wisent, Höhlenlöwe, Pferd und Igel. Ein Fisch ist auch darunter, in schneller, formvollendeter Schwimmbewegung.
Die Spannung der Formen und die Dynamik, die den Figuren innewohnt, ist beeindruckend. Aber auch wie fein die Details der nur vier bis sechs Zentimeter großen Tiere ausgearbeitet sind! Ein künstlerisches Empfinden und eine Zartheit spricht aus ihnen, die das Klischee vom grobmotorischen Steinzeitmenschen gänzlich widerlegt.
Sehr zierlich gearbeitet ist auch ein winziger Löwenmensch. Ein mystisches Mischwesen mit menschlichem Körper und dem Kopf eines Löwen. Er ist viel kleiner als das berühmte Exemplar, das man im Lonetal gefunden hat, und wird hier deshalb als das «Löwenmenschle» angesprochen. Beide, der Große und der Kleine, stoßen Vermutungen zu Glauben und Jenseitswelt im Aurignacien an. Für einen Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits wird die Figur eines Wasservogels gehalten. Die ethnographische Forschung kennt solche Tiere als Begleiter von Schamanen. Eine Deutung, die möglich, aber nicht belegt ist. Welches Geheimnis er tatsächlich mit seiner schönen Gestalt ausdrückt, wissen wir nicht. Aber wir können uns einfühlen in die schlanke Form, die Geschmeidigkeit, mit der er geradezu geräuschlos ins Wasser eintaucht. Dann: Die «Venus vom Hohle Fels». Die älteste bekannte Figur der Menschheit. Eine Frauengestalt mit übergroßen Brüsten und ausgeprägter Vulva. Die Geschlechtsmerkmale dominieren die sechs Zentimeter hohe Figur. Ihre Schenkel verjüngen sich nach unten und enden ohne Füße, sodass sie wie zu schweben scheint. Statt eines Kopfes ist eine Öse aus dem Elfenbein geschnitzt. Es handelt sich also nicht um die Darstellung eines Individuums, sondern um symbolisierte Weiblichkeit. Alle Erklärungen darüber hinaus verlaufen sich im Ungewissen. Auch die Venus verbirgt ihr Geheimnis in einer Entfernung von circa 35.000 Jahren.
Nicht weit von Blaubeuren, ein Stück das Tal der Ach hinauf, führt ein kleiner Steg über das Flüsschen auf einen bewaldeten Berghang zu. Dort öffnet sich ein Spalt zum Hohle Fels. Im Eingangstunnel zur großen Hallenhöhle liegt der Ausgrabungsbereich. Zettel markieren die verschiedenen Grabungsschichten. Je tiefer es in den Boden geht, desto älter ist das Zeitalter der Funde. Als wäre die Zeit geradezu in der Erde versickert.
Die Schicht des Aurignacien ist die vorletzte vor dem blanken Fels. Dort fand das Ausgrabungsteam um den Tübinger Professor Nicholas J. Conard im Jahr 2008 die Venus. Ganz in ihrer Nähe lag die Flöte aus Gänsegeierknochen. Auch der Wasservogel, das Löwenmenschle und andere Schätze kamen aus dieser Tiefe der Zeit.
Der Gang führt weiter in den Berg. Sanft ist die große Rundhalle der Höhle ausgeleuchtet. Karstige Steinwände, die an manchen Stellen glänzen. Die Hand fühlt sandigen feuchten Fels, der nach nasser Walderde riecht. Hier und da das Tropfen von Wasser. Sonst Stille. Mächtig, rauh und doch umhüllend wirkt die Höhle.
Es ist ein Ort, der Zeit und Welt vergessen macht. Die Uhrzeit bleibt stehen, die Urzeit beginnt. Wie mögen die Rhythmen dieser Zeit gewesen sein? Wie mag die Flöte in der fabelhaften Akustik des Raumes geklungen haben? Wie mag es gewesen sein, als draußen vor der Höhle Wasservögel in den ungezähmten Fluss tauchten? Als die Löwenmenschen Gestalt annahmen? Und was wollte diese erste Kunst der Menschheit? Die Wissenschaft kann uns nicht allzu viel darüber sagen. Aber mit Fantasie und Wahrnehmung können die Dinge ein Stück weit erfahrbar werden.
Die Eindrücke der Figuren mit der Empfindung der Höhle zu verbinden kann ein Schlüssel sein. Vielleicht öffnet sich gerade dadurch ein Verständnis. Kein rational-erklärendes, aber ein stärkeres, intuitives, einleuchtendes. So, wie es nur gute Kunst vermag.