Christian Hillengaß

Anwalt des Gewissens

Nr 218 | Februar 2018

Der Grafiker, Jurist und Beuys-Gefährte Klaus Staeck

Schloss Pulsnitz, unweit von Dresden, im Winter 1938. Gräfin Helldorff betritt das Napoleonzimmer, in dem die Wiege eines Neugeborenen steht. Es ist der erste Sohn der Familie ihres Buchhalters. Sie betrachtet das Kind und sagt: «Aus dem wird mal was Besonderes.» Eine positive Prophezeiung. Oder etwa nicht? Halb im Scherz rätselt man in der Familie gelegentlich über die Zukunft des Kleinen. «Etwas Besonderes» – das kann vom Genie bis zum Mörder vieles sein.
Eine Besonderheit zeigt sich schon früh. Das Kind hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Einen «Gerechtigkeitsfimmel», wie Erwachsene es nennen. Eine weitere Besonderheit wird kurz vor dem Abitur in Bitterfeld deutlich. Im Gegensatz zu den meisten will sich der Schüler Klaus Staeck nicht für die Nationale Volksarmee verpflichten lassen. Er bekommt die perfiden Gängeleien zu spüren, die das DDR-System für individuelle Köpfe zu bieten hat. Staeck lässt sich nicht verbiegen und flieht nach dem Abitur in den Westen. Er beginnt ein Jurastudium, unter anderem deshalb, weil er Künstler werden will und ihm die lange Studiendauer des Faches als Chance erscheint, sich in dieser Zeit dorthin zu entwickeln. Er macht das erste Staatsexamen. Er macht das zweite Staatsexamen. Bekommt eine Zulassung als Rechtsanwalt. Und wird zu einem der wichtigsten politischen Künstler der Bundesrepublik.

Heidelberg, eine ruhige Gasse der Altstadt, an einem Abend im Winter. In einem Ladengeschäft, dessen große Fenster fast gänzlich mit Plakaten verhangen sind, brennt noch Licht. Klaus Staeck öffnet die Türe. Das besondere Kind wird im Februar 2018 achtzig Jahre alt. Man könnte ihn um zig Jahre jünger schätzen. Er bittet herein, entschuldigt sich, muss eben noch rasch ein paar Dinge sortieren. Zeit, sich umzusehen. Der Raum wirkt wie Atelier, Büro, Galerie, Verkaufsladen und Rumpelkammer zugleich. Eine Höhle aus Plakaten, Postkarten, Papierstapeln, Zetteln, Zeitungen und allerhand Kleinkram. Ein Universum für sich. Staecks Stützpunkt, von dem aus er in den letzten Jahren regelmäßig nach Berlin pendelte, wo er von 2006 bis 2015 die Akademie der Künste als Präsident führte.
Klaus Staeck gehört zu den Akteuren, die Ende der Sechzigerjahre die Kunst aus ihrem musealen Kontext befreien und sie ins Leben holen, sie mit der sozialen Wirklichkeit zusammenbringen. Für Staeck heißt das vor allem, Kunst und Politik zu verbinden. Er will seiner Wahrnehmung von Missständen in der Welt einen künstlerischen Ausdruck geben, der die Tatsachen auch anderen ins Bewusstsein rückt. Sich einmischen. Die Dinge ans Licht bringen. Im Interesse der Allgemeinheit. Eine solche Kunst hat ihren Platz nicht in Museen und Galerien, ihr Ort ist der öffentliche Raum. Sie soll für alle zugänglich und erschwinglich sein und sich leicht vervielfältigen lassen. Deshalb werden Plakat und Postkarte zu Staecks Lieblingsmedium. Auf sie druckt er seine satirischen, an-stößigen, entlarvenden und erhellenden Motive. Politische Kommentare – in Wort- und Bildmontagen auf den Punkt gebracht. «Ich liefere Demokratiebedarf», sagt er, «visuelles Material für die demokratische Auseinandersetzung.» Bis heute hat er im Eigenverlag 30 Millionen Plakate unter die Leute gebracht.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Auf einem seiner ersten Plakate ist eine Frau zu sehen. Ein Hutzelweib mit starrem Blick, würden die einen sagen. Eine Frau, die das Leben gezeichnet hat, würden andere sagen. Es ist ein Porträt, das Albrecht Dürer von seiner dreiundsechzigjährigen Mutter gefertigt hat. Staeck druckt in roter Schrift darunter: «Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?» und plakatiert das Werk zum Dürer-Jubiläum 1971 an Litfaßsäulen und Werbeflächen in Nürnberg.
Sein erster Anschlag auf das bürgerliche Gewissen erregt großes Aufsehen. «Sozialfall», wie er das Werk betitelt, ist auch Jahrzehnte später noch hochaktuell. So wie viele seiner Arbeiten. Im Fall von Staeck ganz offensichtlich zum Leidwesen des Künstlers. Die von ihm bezweckten Bewusstseins- und Ver­haltensänderungen lassen auf sich warten.
Bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper, Vermieter heben oder senken die Daumen je nach Einkommensnachweis, um sich immer unbescheidenere Mieteinkünfte zu sichern. Der Klimawandel, auf den Staeck als einer der ersten aufmerksam macht, wird immer noch nicht effektiv eingedämmt. Sein Plakat «Stell Dir vor, Du musst flüchten und siehst überall Ausländer raus!» ist von 1986. Die Liste weiterer Beispiele ist lang. Wer deshalb einen verbitterten Altlinken vermutet, täuscht sich.

Staeck ist auch kein bequem gewordener Achtundsechziger. Den revolutionären Kreisen von damals war er als «bürgerlicher» Künstler und SPD-Mitglied suspekt, ihn wiederum stieß das Doktrinäre der Gruppierungen ab. Leute, die keine Zweifel kennen, sind ihm ungeheuer. Klaus Staeck hadert oder schwelgt nicht, wenn er redet. Er ist Realist, klar im Hier und Jetzt verankert – auch wenn er sich um die Zukunft sorgt. «Bitte, setzen Sie sich.» Er nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz. Interviewter und Interviewender versinken zwischen Papierstapeln, die im Sitzen weit über die Köpfe ragen. Hinter Staeck hängt ein Plakat mit Dürers apokalyptischen Reitern. Er hat sie mit Amazon, Apple, Google und Facebook benannt. Die galoppierende Digitalisierung, die das reale Leben unter ihre Hufe bringt. Konzerne, die George Orwell schon fast zum Romantiker machen. Von einem Regal lugt ihm eine Fotografie von Joseph Beuys über die Schulter. Über ihn kommt er rasch ins Reden. 1968 sucht er den damals schon prominenten Künstler in Düsseldorf auf, um ihn für eine Serie alternativer Postkarten zu gewinnen. Mit dessen Zusage beginnt eine lange und intensive Beziehung. Eine «Arbeitsfreundschaft», wie Staeck es nennt, die achtzehn Jahre bis zum Tod von Beuys währt. Sie ergänzen sich in ihrer unterschiedlichen Art, arbeiten, diskutieren und reisen zusammen. Neben den eigenen Werken verlegt Staeck nun auch die des Künstlerfreundes. Er wird zu Beuys’ größtem Verleger, über 200 Editionen hat er mit ihm gemacht. Auch wenn er nie Gefahr lief, einer seiner Jünger zu werden, war der Ältere für ihn ein Lehrer. «Ein großer Anreger», mit dem ihn eine «merkwürdige Form von Seelenverwandtschaft» verband.

Von Beuys lernt er auch, wie man es aushält, die Welt gegen sich zu haben, und trotzdem das zu machen, was man für richtig hält. Lernstoff, für den er oft Anwendung finden sollte. Denn Staecks Kunst ruft mächtige Gegner auf den Plan. Der Springer-Verlag, Banken, Manager, Chemie- und Rüstungskonzerne setzen ganze Rechtsabteilungen auf ihn an. Sie fühlen sich durch seine Plakate beleidigt, verleumdet oder besser: ertappt. Staeck hat ihnen den Spiegel vorgehalten.
Er schlägt sich durch jahrelange Prozesse, deren hohe Streitwerte ihn bei einer Niederlage in den Bankrott katapultiert hätten.
«Da war es nur eine kleine Beruhigung, dass man Jurist ist», sagt er und wundert sich rückblickend, wie verrückt er eigentlich war, all das zu riskieren. «Aber die Verteidigung der Demokratie ist ohne Risiko nicht zu machen», fügt er hinzu. Schließlich ging es um nichts Geringeres als um den Erhalt demokratischer Spielregeln. Darum, dass der «produktive Streit um den besten Weg möglich bleibt», zu dem er immer wieder herausfordert. Klein beigeben wollte er deshalb nie. «Ich verteidige die demokratische Form der Politik bis zuletzt», sagt er ganz ohne Pathos. Und kurz scheint es, als wären die Papierstapel um ihn herum Sandsäcke, hinter denen sich der herzoffene Intellektuelle verschanzen kann, wenn die Welt mit Ungerechtigkeit und Ignoranz einschlägt oder die Mächtigen wieder mal aus allen Rohren feuern. Er hält erstaunlich munter stand. Von den rund vierzig Gerichtsprozessen die gegen ihn geführt wurden, hat er keinen einzigen verloren. Die Strapazen, die er da durchgestanden hat, haben sich seiner Erscheinung nicht eingeschrieben. Er fühle sich auch nicht alt. «Alt ist man, wenn man nicht mehr neugierig ist. Da ich immer noch neugierig bin, bin ich noch nicht alt.»

In der Tat, Klaus Staeck wirkt vital, strahlt einen ungebrochenen Willen zur Tat aus und hat sich einen feinen Humor bewahrt. Nur sachte schimmert in manchen Momenten eine leise Melancholie durch. Das Mitgefühl mit der Welt. «Nichts ist erledigt.» So lautet die Bilanz des Achtzigjährigen. Zwar habe er «im bürgerlichen Sinne alles erreicht», Anerkennung und Ehrungen erhalten. Aber in seinem Kampf für eine Besserung der Welt fühle er sich nach wie vor wie der Sisyphos, als den ihn Günter Grass einmal bezeichnete. Aufgeben wird er deshalb nicht. Auch wenn unsere Zivilisation bereits drohe, den Bach runterzugehen, hält er an einer Hoffnung fest. «Vielleicht bin ich verrückt, indem ich die Wirklichkeit zwar akzeptiere, aber meinen verwegenen Glauben an die Vernunft behalte.» Sein Lebenswerk ist ein einziger großer Appell an diese Vernunft. An das Be­wusst­sein in bewusstlosen Zeiten. Klaus Staeck hat den öffentlichen Raum mit Gewissen plakatiert. Vielleicht ist das Licht, das beim Verlassen seines Ateliers auf die dunkle Straße fällt, ein passendes Bild dafür. Möge es weit und weiter leuchten!