Mitten in Nairobis größtem Slum betreiben Marie Steinmann-Tykwer und ihr Ehemann Tom Tykwer ONE FINE DAY – einen gemeinnützigen Verein für Künstlerworkshops, der Kindern aus den Armenvierteln Kreativität, vor allem aber eine Lebensperspektive vermitteln will.
Phylis nimmt in der Mitte der Mehrzweckhalle Aufstellung. Durch winzige Fenster fallen Lichtkegel wie Spotlights. Staub flirrt. Das Mädchen hält die Arme leicht gerundet vor sich in Bauchhöhe, ihren Körper zur Seite geneigt, die Füße sind nebeneinander abgespreizt, sodass sich die Fersen leicht berühren. Zwei Dutzend Kinder halten die gleiche Position, in Armlänge voneinander entfernt, alle in bunten Ballettanzügen und Schläppchen. «Erste Position», ruft Tanzlehrer Mishael Okumu. Dann tippt er in sein Handy, an dem ein tragbarer Lautsprecher hängt – und schon erklingt die Menschliche Komödie von Dmitri Schostakowitsch.
Phylis Lwakhakha ist 14 Jahre alt und fast ein bisschen zu klein für ihr Alter. Ihre Schritte sind noch unsicher. Doch ihr Körper ist graziös und sportlich, ihre Haltung spiegelt Willenskraft. Die braucht sie auch. Nicht nur zum Balletttanzen, sondern fürs Leben. Denn die Mehrzweckhalle, in der Phylis und die anderen Kinder Ballettunterricht haben, steht nicht in einer schicken Gegend, sondern gehört zu einer Slumschule mitten in Kibera, dem größten Armenviertel von Kenias Hauptstadt Nairobi. Schätzungsweise 250.000 Menschen leben dort, über 95 Prozent unter der Armutsgrenze. Nur wenige schaffen es dort heraus.
Doch wenn Phylis mehrmals pro Woche an ihrer Schule Ballett übt, dann tanzt sie, als würde es dieses andere Leben nicht geben. Wenn sie sich in der staubigen Aula der Kenya Assemblies of God zur Musik bewegt, die mit afrikanischen Rhythmen ungefähr so viel zu tun hat wie ein Geige mit einer Gitarre, verliert sie sich in der Anmut der Bewegungen. Wenn sie tanzt, ist sie glücklich. Dann vergisst sie für ein paar Stunden ihr Leben, das sie mit ihrer Großmutter in einer winzigen Lehmhütte in Kisumu Ndogo, einem der ärmsten Viertel Kiberas, verbringt.
Seit fünf Jahren lernt Phylis klassisches Ballett. Ihr Unterricht ist Teil eines Kunstprojektes in Kibera, das Marie Steinmann-Tykwer gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Regisseur Tom Tykwer, vor zehn Jahren in Nairobi gegründet hat. One Fine Day kooperiert mit Schulen in den Slums wie der Kenya Assemblies of God. Vier Tage pro Woche unterrichten kenianische Künstler über 1000 Kinder an vier Schulen in Kenia in Malerei, Musik, kreativem Schreiben, Theaterspiel, Akrobatik, afrikanischem Tanz und klassischem Ballett.
«Die Idee dazu kam mit einer besonderen Begegnung», erzählt Marie Steinmann. «Mein Mann schrieb mit dem britischen Regisseur Andrew Birkins 2007 das Drehbuch zum Spielfilm Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Patrick Süskind. Wir lernten dabei Birkins’ damalige Ehefrau Bee Gilbert kennen und freundeten uns schnell an. Ein paar Jahre zuvor hatte Bee die Kunststiftung Anno’s Africa in Kenia gegründet.»
Fasziniert sei sie damals gewesen, sagt Steinmann heute. Kindern aus armen Verhältnissen durch Kunst eine Perspektive zu geben. Sie habe ihre Koffer gepackt und sei nach Kenia gereist, um für Anno’s Africa ein paar Wochen lang in Kibera Kunst zu unterrichten. Dabei sei die Entscheidung gefallen. Die Tykwers gründeten 2008 in Nairobi ihre Partnerorganisation One Fine Day. Angefangen hätten sie damals selbst, mit Unterstützung einiger britischer und deutscher Künstler, die übers Schuljahr verteilt nach Kenia reisten, um die Kinder zu unterrichten und einheimische Nachwuchslehrer zu trainieren. Aber brauchen Kinder in den Slums nicht andere Hilfe dringender als Kunsterziehung oder Balletttanzen? Sauberes Wasser etwa und bessere Ernährung, medizinische Versorgung und vor allem eine Schulbildung, mit der sie später auch etwas anfangen können? «Wir sind Kreative. Das ist das, was wir können», sagt Steinmann entschieden. Ihre Stiftung biete dort Raum für Fantasie und Talent, wo dafür kaum Platz ist – in den Slums. In der allergrößten Armut entdecke sie immer wieder unglaublich viel Kreativität, Mut und Hoffnung, vor allem unter den Kindern. Jedes von ihnen habe eine Begabung und gleichermaßen das Recht, sich kreativ auszudrücken. Während in Kenia Kinder an besseren Schulen gefördert werden, blieben Talente in den Slums oft unentdeckt.
Dass Kunst und Kreativität Wegbereiter für ein ganzes Leben sein können, davon ist Marie Steinmann überzeugt. «Wenn ein Kind selbstbewusst musizieren oder Ballett tanzen kann, wird es auch andere Dinge im Leben meistern», sagt die 43-Jährige. Vor allem für Kinder, die unter schwierigen Bedingungen aufwachsen, sei Resilienz lebenswichtig.
Einen Impuls geben für eigene Initiativen – so verstehen die Tykwers heute ihr Projekt. Dass ihr Konzept aufgeht, zeigt die Tatsache, dass ihre Künstlerworkshops inzwischen längst von Kenianern geführt werden und daraus mitunter sogar eigenständige Projekte entstehen.
Wenn an der Nazarene-School in Kibera die Schulglocke schellt, ist dies ein gutes Zeichen – nicht nur für sechzig Kinder der Schule, für die dann der Ballettunterricht beginnt, sondern auch für Mike Wamaya, den ehemaligen Ballettlehrer von One Fine Day, der mittlerweile in Eigenregie an mehreren Tagen pro Woche Kindern in den Slums klassisches Ballett beibringt. Denn läutet die Glocke, dann tragen die Kinder Bänke und Stühle aus engen Klassenzimmern ins Freie, fegen Staub und Müll weg – und in wenigen Minuten wird der triste Raum zum Tanzstudio. Barfuß in bunten Tutus üben sie erste Schrittfolgen und Positionen. Statt an Stangen halten sie sich an Lehmwänden oder Stuhllehnen fest. Wamaya hat über zehn Jahre für One Fine Day Ballett unterrichtet. Tänzer aus Europa haben ihn dafür trainiert.
«Warum Ballett?» – «Warum nicht?», fragt Wamaya zurück. «Uns Afrikanern liegt Rhythmus im Blut – und Tanz ist eine Sprache, die jeder Mensch auf der Welt versteht.» Außerdem: Ballettunterricht schult den Charakter und die Körperbeherrschung und bewirkt eine gute Haltung. Tanz hilft den Kindern, sich zu konzentrieren, löst Hemmungen und inspiriert. «Künstlerischer Ausdruck kann aus emotional schwachen, gebrochenen Kindern selbstbewusste Menschen machen», sagt Wamaya. Und er weiß, wovon er spricht. Wie viele der Kinder, die er heute trainiert, wuchs auch er im Slum auf.
Und Phylis? Sie gehört zu denjenigen aus den Ballettklassen von One Fine Day, die inzwischen tänzerisch große Vorschritte machen. Im vergangenen November holte Marie Steinmann sie zusammen mit fünf anderen Mädchen zum Vortanzen zu einer Spendengala nach Rom.
Einige der begabtesten Ballettschüler aus Kibera trainieren bereits in einem besonderen Förderprogramm des Dance Centre Kenya. Cooper Rust, künstlerische Leiterin des einzigen professionellen Tanzstudios in Kenia und ehemalige Profi-Ballerina aus den USA, kooperiert heute mit den Tykwers. Während One Fine Day mit Hunderten Kindern arbeitet, konzentriert sich Rust auf die größten Talente, die sie aus dem Slum holt, trainiert und in eine bezahlbare Internatsschule vermittelt. Im Dance Centre Kenya tanzen Jungen und Mädchen aus Kibera zusammen mit Kindern aus reicheren Gegenden. Coopers Credo: Talent zählt, nicht die Herkunft. Jedes Jahr zu Weihnachten organisiert die Tanzlehrerin im Nationalmuseum von Nairobi eine Ballettaufführung. Vor großem Publikum führen ihre Schützlinge gemeinsam Tschaikowskys Ballett Der Nussknacker auf. Vielleicht wird auch Phylis eines Tages dabei sein. «Talent dazu hätte sie», sagt Marie Steinmann, die derzeit den Kauf von Land organisiert, um in Kibera ein eigenes Kunstzentrum bauen zu lassen. Ein Ort, an dem die Kinder jeden Tag musizieren, malen, schreiben oder tanzen können.
Phylis’ Schulweg nach Hause führt entlang der alten Bahngleise, die wie eine Grenzlinie die besseren Viertel Kiberas von den ärmsten trennt. Steinmann kauft an einem der vielen Kioske noch schnell Kartoffelchips, Brot und Milch als Gastgeschenke, dann biegt sie mit dem Mädchen ab in eine der engen Seitengassen zwischen den Lehmhütten. Hinter einem schiefen Blechtor begrüßt sie Margreat Shishia, Phylis’ Großmutter, mit Handschlag. Mit einladender Geste bittet sie ihre Gäste in die winzige Hütte einzutreten. Sie sei schon öfter an der Kenya Assemblies of God gewesen, um ihre Enkelin tanzen zu sehen. Afrikanischen Tanz möge sie aber lieber, sie sei ja schließlich Afrikanerin, sagt die 54-Jährige. Marie Steinmann zückt ihr Handy und spielt ihr ein Video von Phylis’ Ballettaufführung in Rom vor. Gleich zweimal schaut sich die Großmutter den Clip an – und bekommt vor lauter Rührung feuchte Augen.