Maria A. Kafitz

Kultur ist keine Frage der Größe

Nr 222 | Juni 2018

Valletta – europäische Kulturhauptstadt 2018

Bin ich tatsächlich zu früh – oder wieder viel zu spät? Ist es wirklich erst 8:55 Uhr oder doch schon 12:37 Uhr? Der Blick auf das Uhrenpaar über dem Eingangsportal der barocken St. Pauls Kathedrale in Maltas ehemaliger Hauptstadt Mdina lässt mich kurz am eigenen Zeitgefühl zweifeln. Und dabei zugleich einer der vielen Geschichten des kleinsten und südlichsten europäischen Staates auf­sitzen, dessen heutige Hauptstadt Valletta neben dem niederländischen Leeuwarden die diesjährige Kulturhauptstadt ist.
Meine Gastgeberin Joanna lacht, als ich ihr von meiner Zeitverwirrung erzähle. «Willkommen auf unserer Insel mit ihren hintersinnigen Bewohnern. Sie werden sehen, es gibt viele Kirchen hier, die zwei Uhren und zwei Zeiten zeigen. Und das liegt nicht etwa an einer verarmten Kirchenverwaltung, die kein Geld für notwendige Reparaturen hat. Nein, das hat Methode. Denn wenn der Teufel nicht weiß, welche Stunde es schlägt, dann kann er die armen Seelen auch nicht zur vorgesehenen Zeit zu sich holen.» Eine wahrlich raffinierte Idee!

Für andere findige Täuschungsmanöver bezüglich diverser Steuervermeidungstricks hat der nur rund 430.000 Menschen zählende Inselstaat, dessen Name vermutlich auf die punische Bezeichnung malet für «Zufluchtsort» zurückgeht, in den letzten Jahren jedoch deutlich weniger freudige Reaktionen erhalten. Und auch der Mord an der regierungskritischen Journalistin Daphne Caruana Galizia am 16. Oktober 2017 liegt noch wie ein schmutziger Schatten über dem sonst so sonnenreich strahlenden Land. «Wir haben hier leider noch einige dieser unsäglichen Machenschaften aufzuklären», bedauert Joanna. «Aber wir haben 2018 auch gute Gründe, ausgiebig zu feiern! Denn mit Valletta als Kulturhauptstadt Europas können wir Bewohnerinnen und Bewohner zeigen, dass wir so viel mehr als Anlegestellen für teure Jachten, dubiose Schließfächer und anonyme Briefkästen zu bieten haben!»
Oh ja, die kleine Insel – eigentlich sind es drei bewohnte (Malta, Gozo und Comino) und vier unbewohnte (Cominotto, Filfla, St. Paul’s Island und Fungus Rock), die zusammen die Republik Malta bilden – hat in der Tat einiges zu bieten. Allein schon der Blick auf die lange Besiedlungsgeschichte und die zahlreichen Eroberungsversuche lässt erahnen, welche großen Begehrlichkeiten dieses kleine Land von Anbeginn weckte: Die Phönizier und Karthager waren dort, zudem die Griechen und Römer, die Araber kamen und auch noch die Normannen. Alle haben sie Spuren hinterlassen. Alle prägten sie die Orte und die Sprache der Inseln, die ab 1530 unter der Herrschaft des souveränen Malteserordens erste Eigenständigkeit er­lebten, 1814 jedoch britische Kolonie wurden und erst am 21. September 1964 die heutige Unabhängigkeit erlangten.

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Fotos: © Sebastian Hoch | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Doch die Geschichte reicht noch viel, sehr viel weiter zurück. Zurück in eine Zeit voller Mythen und Rätsel. Wann genau und wie die ersten Menschen nach Malta gelangten, ist hierbei wissenschaftlich so umstritten, wie der strategisch günstig gelegene Inselstaat lange umkämpft war. Irgendwann aber muss es geglückt sein, denn die aus Stein errichteten und in ihn gemeißelten Zeugnisse uralter Kulturen haben beeindruckende Zeichen hinterlassen. So etwa im malerisch auf einem Hochplateau über dem Mittelmeer gelegenen Tempel­komplex Hagar Qim, entstanden zwischen 3600 und 2500 v. Chr., oder in den Tempeln von Tarxien, die ab 3250 v. Chr. errichtet wurden. Durch ihre formstarken Frauengestalten, die detailnahen Reliefdar­stellungen von Tieren und die mit spiralförmigen Motiven und abstrakten Punktmustern geschmückten Altäre und Wände öffnen diese Monumente ein faszinierendes Fenster in eine schon damals kunstsinnige Vergangenheit.

Und was hat die Gegenwart Maltas im Kulturhauptstadtjahr und über dieses hinaus zu bieten? «Ich sage gern, dass Valletta so eine Art Vorgänger der Europäischen Union war – vor 450 Jahren bereits. In Malta haben wir dieses Modell schon lange, dass unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Kulturen mit unterschiedlichen Religionen zusammen leben, arbeiten und etwas Produktives leisten», erklärt Vallettas Bürgermeister Alexiei Dingli. Diese Idee des besonderen Einzelnen im vielfältigen Ganzen soll aber nicht nur im Jahr 2018 in zahl­reichen Ausstellungen, Konzerten, Diskus­sionsf­oren und Festen spürbar sein, sondern mindestens weitere 450 Jahre das Leben positiv anregen.
Was im Januar mit einem ausgelassenen Fest und reichlich Feuerwerk begann – Letzteres ist übrigens selbst für die kleinsten Dorffeste auf den Inseln typisch und unerlässlich –, durchzieht nun wie eine Kulturwelle nicht nur die Hauptstadt, sondern breitet sich über die ganzen Inseln aus. «Zehn Jahre hat das Land auf diesen Moment hin­ge­arbeitet», erzählt Bürgermeister Dingli. «Uns geht es nicht nur um Valletta, sondern um ganz Malta.» Und auch der Leiter des Kulturhauptstadtjahres, Jason Micallef, betont: «Das Programm wurde gemacht, um Verbindungen zu schaffen, Ideen auszu­tauschen, Ideologien zu überwinden und um Freude zu bereiten – überall im Land.»

Einen der imposantesten Gebäude­komplexe hat dennoch die seit 1980 zum Unesco-Weltkulturerbe zählende, überaus lebhafte Hauptstadt erhalten, in deren steilen Straßenschluchten und Altstadtgassen fast jedes Haus mit seinen charakteristischen Holzveranden unter Denkmalschutz steht: Stararchitekt Renzo Piano hat das alte Stadttor durch zwei kühne Quader ersetzt, die sich in ihrer Farbigkeit und Formgebung als ruhiger Kontrapunkt überaus harmonisch ins bunte Stadtbild und den anschließenden Platz rund ums neue Parlamentsgebäude mit seiner wabenartigen Fassade einfügen.
Burg- und Festungsmauern der Gegenwart – standhaft und doch offen – hat Renzo Piano zusammen mit dem maltesischen Architekten Konrad Buhagiar geschaffen und dabei ganz bewusst die Geschichte Vallettas einbezogen. Der Name geht zurück auf den Groß­meister des Malteserordens Jean Parisot de la Vallette, der 1566 den Grundstein für die Stadt gelegt hatte und sie zu einer der bestgesicherten der Welt, umgeben von einem Ring aus Bastionen, ausbauen ließ.
Doch nichts ist ewig – und nichts im Lauf der Geschichte vor dem Vernichtungs­willen anderer wirklich gefeit, und so wurde auch die nahe dem Parlament gelegene Oper im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört. Aber auch hierfür haben Piano und Buhagiar eine eindrückliche Lösung gefunden: Sie verwandelten die Oper in ein Freilichttheater – und so klingen nun zwischen den Resten alter Säulen in der Dämmerung die Arien bis hinunter zum Meer.

«Die neue Oper liebe ich ja besonders», schwärmt Joanna, der ich unbedingt das neue Programm mitbringen soll, «aber nicht alle waren anfangs von der Idee begeistert. Doch ist das nicht immer so, wenn etwas verändert werden soll? Da unterscheiden wir uns auf Malta von keinem anderen Ort der Welt. Das neue ‹Operngebäude› wäre ohne die Ernennung Vallettas zur Kulturhauptstadt – wie anderes in den letzten Jahren auch, ob man’s mag oder nicht – wohl nie in dieser Form realisiert worden.»
Eine andere der «Großinitiativen» zum Kulturhauptstadtjahr erwartet die Bevölkerung hingegen vorfreudig und voll Spannung: die Eröffnung des MUZA, des Nationalen Kunstmuseums. Der Name ist eine Abkürzung des maltesischen Wortes MUZew Nazzjonali tal-Arti. Gleichzeitig ist MUZA aber auch eine Anspielung auf das maltesische Wort für Muse. Und diese soll möglichst alle küssen, wenn sie das Museum besuchen – so zumindest wünscht es sich der neue Direktor Sandro Debono. «Dafür sorgen wir durch die Mischung aus alter und neuer Kunst, aus fundierten Erklärungen und neuen, inter­aktiven Vermittlungsformen, die den Besucher zum Mitgestalter machen. Unser Museum findet in der wunderschönen Auberge d’Italie, einem historischen Gebäude aus dem Jahr 1574, sein Zuhause, in dem einst die italienischen Ordensritter lebten. Ein gutes Omen, wie ich finde, denn die italienische Lebenslust ist auch uns hier auf Malta nicht fremd, und wir wollen sie auf die Kunstvermittlung übertragen.» Außerdem, und darauf legen alle Projektverantwortlichen großen Wert, soll das MUZA umweltfreundlich sein, seinen Energiebedarf vollständig durch erneuerbare Energiequellen decken und ein überzeugendes Beispiel für die Umgestaltung und Neunutzung eines historischen Ge­bäudes werden.
Ich traue ihnen zu, dass all die gefassten Pläne (der Eröffnungstermin ist für Ende Mai, Anfang Juni 2018 geplant) Wirklichkeit werden, und freue mich schon heute auf meine nächste Maltareise und einen Besuch in der zum Museum ver­wandelten Auberge d’Italie.


_____ (Foto oben)
Wer in L-Isla, einer der Three Cities, die zur Verteidigung des Grand Harbour gegenüber von Valletta gegründet wurden, an der Spitze der dortigen Bastion den Beobachtungsposten Il Gardjola besucht, hat nicht nur einen berauschenden Blick auf die Hauptstadt und den Hafen, sondern findet zugleich einen Turm der besonderen Art: einen mit Ohren, Augen und einem Kranich. Hören, sehen und aufmerksam die Umgebung wahrnehmen - was einst als Zeichen der Feindabwehr in Stein gemeißelt wurde, kann heute Anregung zum wachen Erkunden dieses und aller anderen Orte der Welt sein!