Wie nähert man sich der wunderreichen Gestalt des Mädchens Jehanne, das am 6. Januar 1412 in einem kleinen Dorf in Lothringen geboren wurde und als Jeanne d’Arc oder als die Jungfrau von Orleans in die Geschichte Europas einging? Wie erzählt man von ihr? Wie erzählt man von den Wundern? Wie zeichnet man ein Bild?
Für was musste sie nicht alles herhalten. Als Nationalheldin Frankreichs, Heilige Roms, Amazone Hollywoods oder Ikone des Front National. Als tausendfach interpretierte Gestalt in Literatur, Theater, Werbung, Film und Comic. So viele Bilder wurden von ihrem abgezogen und so viele andere darübergelegt, dass ich mich scheue, ein weiteres hinzuzufügen, mich eher umschreibend als beschreibend nähern will; kreisend, wandernd, lauschend und – wenn schon mit Worten – dann auf leisen Sätzen. Zwei Wege wähle ich dazu: den über die Bücher und den über die Dörfer.
Der Weg über die Bücher führt zu den alten Quellen, die von ihr berichten – Aussagen von Menschen, die sie kannten, oder dem Protokoll des Inquisitionsprozesses, der gegen sie geführt wurde. Durch die sorgsame Aufbereitung von Historikerinnen und Historikern kann man vielem mit entsprechender Umsicht trauen. Sich einem Bild nähern.
Der Weg über die Dörfer führt auf schmalen Straßen durch die Wälder und Weiden Lothringens. Eine Landschaft, die wie vergessen daliegt, oft menschenleer. Halb verfallene Steinhäuser in halb verlassenen Ortschaften stehen einer Zeitreise ins Mittelalter nicht im Wege, weisen geradezu dorthin. Von einer alten Prophezeiung Merlins wurde damals erzählt: Eine Jungfrau aus einem Wald der Wälder Lothringens werde einst Frankreich retten. Aus dem Bois Chenu, dem schlohweißen Wald, werde sie kommen.
Hinter einer Waldkuppe öffnet sich das Tal der Maas: weit, grasgrün und von waldigen Hügeln umgeben. Der Fluss mäandert durch Wiesen, neben einer Brücke schnattern Gänse, gackern Hühner – blühende Kirschbäume säumen die Straße in eine kleine Ortschaft: Domrémy-la-Pucelle. Hier wurde Jehanne geboren, hier wuchs sie auf. Domrémy hat dieselbe Größe wie damals – ein paar Häuser entlang der Dorfstraße, ein paar abzweigende Gassen, Scheunen und Gärten. Es ist dem Ort mit seinen 125 Einwohnern nicht anzumerken, dass hier eine Nationalheldin geboren wurde. Niemand ist zu sehen, nur eine alte Frau harkt ihr Gemüsebeet. Eine gedrungene Steinkirche steht am Ende der Dorfstraße. Hier wurde Jeannette – wie sie im Dorf genannt wurde – getauft. Im Innern ist es kühl und dämmrig, in einem Winkel steht das alte Taufbecken. An einer Säule die unscheinbare Figur der Heiligen Margareta, zu der Johanna oft betete. Seit über sechshundert Jahren steht sie hier, kennt noch das Mädchen. Auch die Weihwasserschale neben dem Eingang ist aus dieser Zeit. Ihr Steinrund von der Berührung ungezählter Hände glattpoliert. Gleich hinter der Kirche, von einem Garten umgeben, befindet sich ihr Geburtshaus. Die Räume steinkühl wie die Kirche. Neben dem offenen Kamin steht eine kleine Statue, die Jeanne d’Arc mit Schwert und Rüstung zeigt. Eine von vielen Darstellungen, auf die man in und um Domrémy stößt. Nicht selten haftet ihnen Frömmigkeit, Entrückung und Pathos an. Diese hier wirkt eher bescheiden und verträumt.
«Johanna war gut, einfach und mildherzig. Daheim spann sie Hanf und Wolle. Manchmal ging sie mit ihrem Vater vor dem Pflug her und hütete für ihn die Herden.» Ungefähr so wie ihre Patin beschrieben sie fast alle Dorfbewohner. Ungewöhnlich für solch ein Mädchen aber ist, dass sie sich einer von den Eltern arrangierten Heirat verweigert. Der junge Mann, dem sie versprochen wurde, will die Ehe einklagen. Sie hält stand, geht vor das bischöfliche Gericht in Toul, um sich zu verteidigen. Und setzt sich durch. Sie will «sich selbst regieren» – und bleibt frei. Bleibt allein. Ja, vielleicht erlebt sie in Familie und Dorfgemeinschaft Einsamkeit.
Berichte wie der eines ihrer Altersgenossen deuten das an: «Oftmals, während wir alle fröhlich beisammen waren, entfernte sich Johanna, und es schien mir, dass sie beten wollte. Dann machten wir uns lustig über sie. Sie ging viel zur Kirche und zu den geweihten Orten. Oft, wenn sie auf dem Feld war und die Glocke läuten hörte, kniete sie nieder.»
Johanna ist mit einem Geheimnis allein, das sie über Jahre schweigend mit sich trägt. Dreizehn Jahre ist sie alt, als Dinge eintreten, die nur sie sieht und hört.
«Die Stimme kam zur Mittagsstunde; es war im Sommer, im Garten meines Vaters. Sie war von einer großen Helligkeit begleitet. Beim dritten Anruf wusste ich: es war die Stimme eines Engels. Sie ist schön, innig und demütig und spricht die Sprache Frankreichs. Sie hat mich immer recht geleitet, und ich habe sie immer verstanden. Sie riet mir, mich gut zu führen.»
Ich lasse Jehanne hier sprechen, weil ich nicht weiß, wie man über ein Wunder schreibt; füge nur die Sätze, die sie später vor dem Inquisitor sagt, zu einer Schilderung zusammen. Sie kommen zögerlich, sie spricht zurückhaltend, die Richter bohren nach.
«Es war der Heilige Michael, den ich vor meinen Augen sah. Er war nicht allein, sondern von den Engeln des Himmels begleitet. Ich habe sie mit meinen Augen gesehen, wie ich Euch alle sehe. Als sie mich verließen, weinte ich, denn ich wünschte, sie hätten mich mit sich fortgenommen.»
Die Erscheinungen kommen wieder, vor allem in Gestalt der Heiligen Katharina und Margareta. Sie fordern sie auf, Domrémy zu verlassen, um Frankreich zu Hilfe zu kommen. Das Land ist zu großen Teilen von England besetzt und wird von Bürgerkriegen erschüttert. Immer wieder hört sie von den lichtbegleiteten Stimmen, sie solle losziehen und das belagerte Orléans befreien. Mit den Jahren werden sie dringlicher. «Geh, Johanna, geh, geh, geh!»
«Sind sie Euch auch unter dem Baum erschienen?», fragen die Richter, «Ihr wisst, der nah beim Dorfe war.» – «Davon weiß ich nichts.» – «So war es bei der Quelle, die nah vorbeifließt?» – «Ja, dort habe ich sie gehört.»
Der Baum. Immer wieder kommt er in den Erzählungen um Jeanne d’Arc vor. Groß, alt und mächtig muss er gewesen sein – und «schön wie eine Lilie», wie ein Bauer ihn beschrieb. Johannas Patin erzählte, dort Feen gesehen zu haben. Sie war nicht die Einzige. Der Baum stand auf einer Wiese nahe am Bois Chenu, jenem Wald aus Merlins Prophezeiung. Heute blickt vom Waldrand eine große Basilika ins Tal. Sie wurde dort errichtet, wo das Mädchen beim Hüten der Schafe den Auftrag zur Rettung Frankreichs erhalten haben soll.
Eine viertel Stunde läuft man vom Dorf dorthin. Vor der prächtigen Basilika kniet eine Jeanne-Statue, der Erzengel und die Heiligen stehen mit Schwert und Krone hinter ihr. Ein sichtbarer Versuch, das Unsichtbare darzustellen. Der Baum der Feen soll nur ein paar Schritte von hier gestanden haben. Nicht weit davon fließt immer noch die Quelle, abgelegen unter Bäumen, es führt nicht mal ein Pfad dorthin. Auch hier ein Standbild. Die Jungfrau mit gefalteten Händen und einer Wollspindel. Ihr weißer Lack blättert, Rostflecken schimmern in ihrem Gesicht. Zeit und Wetter haben sie irdischer gemacht.
Weiter hinein in den Bois Chenu. Während ich durch den Wald laufe, laufe ich auf ihren Spuren, nicht nur vor Ort, auch in Gedanken. Laufe, reite mit ihr die vielen Wege, die sie zurückgelegt hat, nachdem sie das Dorf mit sechzehn Jahren heimlich verließ, um Frankreich von der Besatzung der Engländer und dem blutigen Chaos des Hundertjährigen Krieges zu befreien. Über Vaucouleurs nach Chinon, wo sie vor den designierten Thronfolger tritt und ihm sagt, sie habe den göttlichen Auftrag, an der Spitze seiner verbliebenen Truppen das kriegswichtige Orléans zu befreien. Anschließend wolle sie ihn zur Krönung nach Reims führen, auf dass er Frankreich vollständig zurückgewinne. Sie erreicht all das. Als brillante Heerführerin bewirkt sie die militärische Wende und bestärkt sie politisch mit der Krönung des Dauphins.
Ich bin mit ihr unterwegs, dort und an den anderen Orten, an denen sich erstaunliche Geschichten um sie ereignen, die hier nicht alle ausgeschrieben werden können. Viele Menschen begegnen ihr mit heller Begeisterung, manche auch mit Skepsis. Die Bürger von Troyes schicken ihr einen Geistlichen entgegen. Er nähert sich mit dem Kreuz, um sie zu prüfen. Bespritzt sie aus der Distanz mit Weihwasser. «Komm ruhig näher», sagt sie, «ich fliege nicht davon.»
Die Gegend begünstigt die innere Reise, stundenlang wandere ich, ohne jemandem zu begegnen. Bis plötzlich Fuchswelpen über den Weg tollen. Die Überraschung ist gegenseitig. Schließlich nähern sie sich vorsichtig, verspielt, üben sich im Bellen, knabbern an den Hosenbeinen.
Dann bin ich wieder unterwegs – mit ihr, für die ich nun doch laute, eindeutige Sätze finden möchte, um ihr Wunder leuchten zu lassen. Für ihr Ende dagegen, klaube ich bestürzt ein paar knappe Worte zusammen. Sie fällt bei einem Gefecht in die Hände ihrer Widersacher, behauptet sich klug in dem von England gesteuerten Inquisitionsprozess und wird trotzdem am 30. Mai 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Neunzehn Jahre ist sie da «alt» – und hat im mannsbeherrschten Mittelalter Unglaubliches bewegt.
Abendstimmung zieht in den Bois Chenu. Aus der Ferne klingt das Angelusläuten der Basilika – nicht lauter als das Konzert der Vögel in den Bäumen. Nun ist da doch ein Bild …