Das Meer glitzert silbern – still, sanft. Am nahen Horizont die Silhouette der türkischen Berge. Vögel zwitschern, Schafe blöken, ab und zu fährt ein Auto. Eine Idylle pur im nord-ägäischen Meer. Lesbos. «Ein Paradies» – wie es entspannungssuchende Touristen gerne so sagen.
Für Menschen, die vor Krieg und Verfolgung in Afghanistan, Syrien, dem Sudan oder Somalia fliehen, ist es das im wahrsten Sinne des Wortes – zumindest zunächst. Die griechische Insel Lesbos ist einer der äußersten Zipfel Europas und mit ihrer Nähe zum türkischen Festland von nur wenigen Kilometern der Zugang zu einer Welt von Frieden und Freiheit. Die Hoffnung, in Europa Asyl zu finden, die Hoffnung auf eine Zukunft ohne Gewalt und Bedrohung für sich und ihre Kinder lässt viele Menschen ihr ganzes Hab und Gut einsetzen und zuletzt in der Türkei in ein meist überfülltes Boot steigen. Nach einer oft monatelangen Flucht-Odyssee ist das Flüchtlingslager Moria die erste Aufnahmestation im vermeintlichen Paradies.
Das ehemalige Militärgelände in der Nähe der Inselhauptstadt Mytilini ist ein Ort der relativen Sicherheit und Hoffnung für die einen – die Geflüchteten. Ein sogenannter «Hotspot» für die anderen – beispielsweise die Migrationsverwaltung der Europäischen Union. Eigentlich für knapp 3.000 Schutz- und Asylsuchende ausgerichtet, leben derzeit meist einige tausend mehr dort.
Die Menschen sind bei ihrer Flucht durch viele Länder oft erneut Gewalt und Übergriffen ausgesetzt. Die Überfahrt von der nahen türkischen Küste überleben nicht alle in den seeuntauglichen Booten. Viele der Kinder, Frauen und Männer erleben Traumatisches. An Körper und Seele. Selbst das wertvolle Überleben kann so zur Last werden.
Moria steht für eine eigene Welt mit vielen Gesichtern – erschütternden, liebenswerten, aggressiven, menschenunwürdigen. Im Alltag sind die Menschen oft alleingelassen von einer europäischen Flüchtlingspolitik der Abschottung, und nach Monaten des Wartens im Lager weichen ihre Hoffnungen dem Gefühl der Ohnmacht und Verbitterung. Aber Moria ist auch ein Ort, an dem Geflüchtete, Einheimische und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus unterschiedlichsten Ländern Großartiges leisten und sich für die Würde der Geflüchteten einsetzen.
Ein Olivenhain der Zuversicht
Eine gut ausgebaute Straße führt vom Meer zum Lager Moria. Einzelne Industriegebäude tauchen auf. Jugendliche spielen Fußball auf einem Fabrikhof. Das Lager selbst ist umgeben von Zäunen. Vielfach gesichert, Stacheldrahtrollen, Security. Ein Reinkommen ist ohne Berechtigung unmöglich. Daneben ein Olivenhain voller Zelte. Ein Teil wild, aber geduldet. Niemand weiß genau, wie viele Menschen der Enge im Lager entflohen sind, um hier in zusammengeflickten Zelten zu leben. Dazwischen improvisierte Spielgeräte, Schaukeln aus alten Autoreifen für die Kinder. Ein Bäcker, der in einer selbst gebauten Steingrube leckeres Fladenbrot backt.
Unterhalb, im Olive Grove Süd, stehen solide Zelte der UNO-Flüchtlingshilfe mit «Hausnummern» und Mülleimern. Es gibt geschotterte Wege, einen WC-Wagen, ein paar Duschen, überdachte Spülbecken. Movement On The Ground, eine kleine NGO aus den Niederlanden, organisiert seit August 2018 ganz offiziell das Zusammenleben der 600 Menschen, die hier in 60 Zelten wohnen. Möglich wurde dies nach heftigen Protesten gegen die Zustände im Lager, in dem bis zu 10.000 Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen auf die Bearbeitung ihres Asylantrages warteten.
Während drinnen, hinter den Zäunen, die Grundstimmung eines Internierungslagers herrscht, spürt man draußen, in Olive Grove Süd, eine entspannte Atmosphäre. «Vom Lager zur Dorfgemeinschaft» ist das Motto der niederländischen Organisation. Das heißt: die Menschen ernst nehmen, Orte der Begegnung schaffen, Konfliktsituationen vermeiden. Es leben hier Familien, aber auch viele alleinstehende Männer. Man kennt und respektiert sich. Die Bewohner nehmen die Möglichkeit der Mitgestaltung mit bewundernswerter Zuversicht und Kreativität dankbar an. Ein junger Afghane bietet Fitness mit selbst betonierten Geräten an. Ein Gärtner aus dem Iran hat Beete mit Tomaten und Kräutern angelegt. «Alles ist besser als Nichtstun», stellt dessen Sohn Amir in gutem Englisch fest. Er arbeitet beim freiwilligen Reinigungsteam mit, das mehrmals täglich die Sanitäranlagen putzt und alle Mülleimer leert. Denn mit dem Rumsitzen kämen nur die schweren Gedanken wieder.
Stärkung für die Kinder
Die Kinder und Jugendlichen sind die Schwächsten in jedem Krisengebiet. Sie leiden am meisten unter dem Erlebten, können schwer verstehen, was in der Welt der Erwachsenen geschieht. Sie zu stärken und damit Keime für eine friedvolle Zukunft zu legen, ist das Anliegen von stART international e.V. Der engagierte Verein hat seinen Sitz im bayrischen Gröbenzell und ist seit 2006 mit Nothilfe für Kinder bei Kriegen oder Naturkatstrophen weltweit unterwegs. Die Besonderheit seiner Arbeit ist die Verbindung von Pädagogik, Traumatherapie und Kunst auf der Grundlage der Waldorfpädagogik.
Die Arbeit ist getragen von Spenden und von viel Herzblut der stART-Teammitglieder, die im Zusammenspiel ihrer Professionen seit dem Bestehen Beeindruckendes geleistet haben: Kindernothilfe in 150 Auslandseinsätzen wie in Libyen oder Haiti, die Weiterbildung von rund 8.000 Fachkräften im Ausland, eine Vielzahl interkultureller Projekte an Schulen im Inland oder auch die Entwicklung einer universitätszertifizierten Weiterbildung «Trauma- und Notfallkunsttherapie» in Kooperation mit der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn.
Seit Dezember 2018 ist stART auch in Moria im Einsatz. Mit ihrer niederschwelligen traumatherapeutischen und resilienzstärkenden Arbeit im pädagogischen Setting ist die Organisation hier sehr gefragt und geschätzt. Die künstlerisch-kreativen Gruppenangebote bringen den Kindern Freude und Ablenkung, vor allem aber werden gezielt ihre Heilungs- und Widerstandskräfte gestärkt. «Dazu braucht es Teams aus Therapeuten, Pädagogen und Künstlern, die Berufserfahrung mitbringen und gleichzeitig offen sind für das Neue, das in der gemeinschaftlichen Arbeit mit den Menschen am jeweiligen Ort werden will», erzählt die geschäftsführende Vorständin Barbara Schiller. Für Lesbos hat Christoph Bednarik, Ethnologe mit Eurythmieausbildung und langjähriger Nothilfeerfahrung, die Teamleitung.
Mittlerweile ist stART zum dritten Mal auf der Insel. Neben Fortbildungen für internationale und lokale Helfer macht das fünfköpfige Team zwei Wochen lang Angebote für Kinder und unbegleitete Minderjährige – nachmittags im Hauptlager und vormittags in Olive Grove. Das Team geht anfangs von Zelt zu Zelt, spricht mit den Eltern und lädt die Kinder ein. Bald schon strömen viele freudig herbei, sobald sie eines der roten stART-T-Shirts sehen. Der dreijährige Reza turnt auf dem Olivenbaum in der Mitte des «Dorfplatzes» und beobachtet aus sicherem Abstand, wie die anderen Kinder mit höchster Konzentration ihre selbst genähten Jongliersäckchen auf den Handrücken über eine Ziellinie balancieren. Seine Schwester Leila genießt die Bewegungsspiele und Handarbeiten. Zum Sandspiel steigt Reza dann doch vom Baum herunter. Am nächsten Tag sitzt er schon bei der Begrüßung mit im Sing- und Pantomimenkreis. Er hat Vertrauen fassen können – in seinem Tempo.
Das ist ein Grundsatz von stART: Die Kinder sind eingeladen, aber sie entscheiden, ob und wie lange sie bleiben. So einfach, wie es klingt, ist es nicht. «Das muss man als Team auch aushalten», betont Barbara Schiller. Es gibt ein wohlüberlegtes Programm zwischen dem gemeinsamen Ankommen und Verabschieden im Kreis. «Das Knüpfen von Freundschaftsbändchen stärkt beispielsweise durch die Überkreuzbewegungen die Brücke zwischen den Gehirnhälften, die bei traumatischen Erlebnissen geschwächt wird», erklärt Irene Speidel-Schreiber, die schon viele Jahre mit stART auf Auslandseinsätze geht. Mit wenig Materialaufwand gelingt es dem Team wunderbar, geschützte Räume zu schaffen und den Kindern selbst in dieser Umgebung das Gefühl von Aufgehobensein und Selbstwirksamkeit zu vermitteln. In diesen Tagen gibt es für sie viele kleine Momente des Glücks – und der Stärkung! Und: stART wird wiederkommen.
Ein Tropfen auf den heißen Stein bei all der humanitären und politischen Misere drumherum? Ja, vielleicht – aber ein sehr wertvoller und wichtiger!