Ich bin auch in Ravenna gewesen.
Ist eine kleine tote Stadt,
Die Kirchen und viele Ruinen hat,
Man kann davon in den Büchern lesen.
Du gehst hindurch und schaust dich um,
Die Straßen sind so trüb und nass
Und sind so tausendjährig stumm
Und überall wächst Moos und Gras.
Das ist wie alte Lieder sind.
Man hört sie an und keiner lacht
Und jeder lauscht und jeder sinnt
Hernach daran bis in die Nacht.
Die Frauen von Ravenna tragen
Mit tiefem Blick und zarter Geste
In sich ein Wissen von den Tagen
Der alten Stadt und ihrer Feste.
Die Frauen von Ravenna weinen
Wie stille Kinder: tief und leise.
Und wenn sie lachen, will es scheinen
Zu trübem Text die helle Weise.
Die Frauen von Ravenna beten
Wie Kinder: sanft und voll Genügen.
Sie können Liebesworte reden
Und selbst nicht wissen, dass sie lügen.
Die Frauen von Ravenna küssen
Seltsam und tief und hingegeben.
Und ihnen allen ist vom Leben
Nichts kund, als dass wir sterben müssen.
Hermann Hesse
Zu Fuß über einsame Landstraßen, allein – nur von der unerbittlichen Sonne im Wechselspiel mit dem nicht minder erbarmungslosen Regen und jenem Wind begleitet, der schon ganz leicht nach Meer schmeckt –, erreichte Hermann Hesse auf seiner ersten Reise durch Italien jene auf den ersten Blick unscheinbar anmutende Stadt in der Emilia-Romagna, der er 1904 diese Zeilen widmete. Wie vor ihm Goethe, Lord Byron, Oscar Wilde oder Stendhal und nach ihm ungezählte andere Poeten, die seit ein paar Jahren mit der Via dei poeti eine eigene Straße mit Zitaten, kurzen Lebensläufen und Schautafeln haben, zog es auch Hesse an jenen Ort, der die letzte Ruhestädte eines letztlich Unsterblichen wurde. In Ravenna nämlich liegt Dante Alighieri (1265–1321) begraben. Und hier schrieb er auch die finalen Zeilen seiner Göttlichen Komödie, die Dichtergenerationen aus Ehrfurcht verstummen ließ – oder aus Begeisterung erst zum Schreiben veranlasste: «L’amor che move il sole e l’altre stelle.» / «Die Liebe bewegt die Sonne und die anderen Sterne.»
Es war nicht dieser alles bewegende letzte Satz, der mich wieder nach Ravenna führte. Und doch beinhaltet er etwas, was mich schon als Kind verzauberte und das ich wiedersehen wollte: die Sterne. Denn als ich unter der Kuppel des kleinen, von außen unspektakulären Gebäudes aus rotem Ziegelstein stand, welches das Mausoleum der Galla Placidia beherbergt, glaubte ich eine Ahnung zu haben – eine staunende Anschauung davon, wie es im Himmel sei, wie es im Paradies aussehen könnte. Hunderte, nein: tausende kleine Steine und Steinchen fügen sich darin an Wänden und Decken zu einem Musterteppich zusammen, zeigen konkrete Figuren und unkonkretere Formen, um im Zentrum ein Firmament voller Sterne zu bilden, in dessen Mitte das goldene Kreuz selbst Stern zu werden scheint.
Und heute? Was bewirkt der Anblick des Steinchen-Sternen-Himmels in einem, wenn der Verstand der verträumten Ahnung widerspricht, die staunenden Kinderaugen zu schärferen Erwachsenenblicken geworden sind? Das Wunder bleibt. Die ungezählten kleinen Mosaiksteine erschaffen im Zusammenspiel der Farben einen Ort, der einfach himmlisch schön ist. Und paradiesisch, wenn man ihn ganz für sich allein hat, weil keine Touristengruppe sich durchs gerade 12,75 Meter lange und 10,25 Meter breite Gebäude drängt. In Ravenna ist dies möglich, wenngleich zahlreiche der spätantiken Bauten und Sehenswürdigkeiten seit 1996 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Einst als Hafenstadt an der Adria gegründet, wegen der Verlandung nun aber rund 9 Kilometer von der Küste entfernt, war Ravenna von 402 bis 476 Hauptresidenz der weströmischen Kaiser und somit Dreh- und Angelpunkt der Macht und zahlreicher Ränkespiele. Heute hat die fast 160.000 Einwohner zählende Stadt hingegen wieder Geheimtippcharakter und einen unverbrauchten Charme, den andere Gegenden längst verloren haben. Und Ravenna hat auf engstem Raum derart viel Sehenswertes zu bieten, dass man sich einfach treiben lassen kann und quasi von selbst von einem Kunstgenuss zum nächsten gelangt. Alle bemerkenswerten Gebäude und ihre Geschichten hier auf vier Magazinseiten zu nennen, gar beschreiben zu wollen, käme einem unvollkommenen Wortmosaik gleich, das nur Textbruchstücke aneinanderreiht. Doch wenigstens einige sollen erwähnt werden.
Wer sich vom Sternenhimmel der Galla Placidia (388–450) losreißen kann, dieser ungewöhnlichen, dieser bemerkenswerten Frau, Tochter des römischen Kaisers Theodosius I., Mutter des späteren Kaisers Valentinian III. und einige Jahre lang selbst Regentin des Weströmischen Reiches, gelangt in nur wenigen Schritten zur Kirche San Vitale. Vermutlich 537 begonnen und nach ihrer Vollendung 547 dem heiligen Vitalis, dem Schutzpatron der Stadt, am Ort seines Martyriums geweiht, zählt sie zu den bedeutendsten Kirchenbauten ihrer Zeit. Im Innern beherbergt San Vitale auch nach all den Jahren Boden- und Wandmosaike in ungewöhnlicher Farbpracht und -intensität, da sie aus versiegeltem Blattgold und Halbedelsteinen gearbeitet wurden, denen die sonst alles annagende Zeit Glanz und Strahlkraft nicht rauben konnte. Unter den dargestellten Szenen – etwa jener des auf einer Himmelskugel thronenden bartlosen Christus in der Apsis – dürften die berühmtesten wohl die sich an den Apsiswänden befindlichen Porträts des Kaiserpaars Justinian und Theodora in Begleitung ihres Hofstaates sein.
Ihre lange Regentschaft (527–565) markiert eine wichtige Phase im Übergang vom antiken Imperium Romanum zum Byzantinischen Reich des Mittelalters. Zusätzliche Bedeutung erlangte Justinian – quasi ein Urvater der Justiz – zudem für die Rechtsgeschichte, denn durch die von ihm beauftragte Zusammenfassung des römischen Rechts, des Codex Iustinianus, konkretisierten sich die Versuche, gleiche Verbindlich- und Verlässlichkeit für alle Bürger und Bürgerinnen zu schaffen.
Auch heute kümmert man sich in Ravenna um die Bürger – und besonders um die Bürgerinnen. Zumindest setzen überall in der Stadt angebrachte neuzeitliche Mosaike ein Zeichen dafür: Einmal quer durch den Blumengarten, ob als Veilchen oder Astern, als Rosen oder Mohnblumen, erinnert die Frauenschutzorganisation Linea Rosa seit 2011 daran, dass Frauen vor Gewalt, sexuellen Übergriffen und Mobbing geschützt werden müssen: «Ravenna: città amica delle donne» / «Ravenna: frauenfreundliche Stadt» lautet die Aussage, die zugleich ein Auftrag an alle ist. An uns alle – weit über die Grenzen der Stadt hinaus.
Wenige Kilometer außerhalb der Stadtgrenze, im sonst recht schmucklosen Classe, einst von Augustus zum Flottenstützpunkt auserkoren und über 500 Jahre einer der wichtigsten Militär- und Handelshäfen, steht ein weiterer Ort des Staunens und der Mosaikkunst: die Kirche Sant’Apollinare in Classe. 549 Apollinaris, dem Bischof, Märtyrer und Gründer der christlichen Gemeinde von Ravenna, geweiht, wird sie heute nicht nur von Augustus, sondern zudem von einer Herde imposanter Wasserbüffel aus Bronze bewacht. Viele Jahre zuvor allerdings hielt man sie für leidlich sicher, weshalb die Reliquien von Apollinaris in die Kirche Sant’Apollinare Nuovo gebracht wurden – einem anderen Ort, dessen faszinierende Mosaike nicht nur die Geschichte der Stadtgründung erzählen und in ihren Figurengruppen Rätsel aufgeben, sondern zugleich auch bildgewordenes Zeugnis der Regentschaft des Ostgotenkönigs Theoderich des Großen (454–526) sind, dessen ungewöhnliches Grabmal vor den Toren Ravennas thront.
Doch zurück nach Classe, zurück in die Basilika Sant’ Apollinare, die am Tag meines Besuches eine unerwartete Überraschung bereithielt: Sie war menschenleer. Nur draußen am Campanile, dem wohl erst im 11. oder 12. Jahrhundert erbauten freistehenden Glockenturm, tummelte sich eine kleine Besuchergruppe. Innen war niemand. Vollkommene Stille. Ich hätte eigentlich die Schuhe ausziehen müssen, um beim Gehen durch diese große, 55,58 Meter lange, links und rechts von jeweils 12 Marmorsäulen gegliederte Kirche auch lautlos zu sein. Das zentrale Mosaik der Apsis zeigt Christus nur durch ein Kreuz im Sternenrund, darüber die Hand Gottes, flankiert von den Erzengeln Michael und Gabriel. Darunter breitet sich eine saftige grüne, blumenübersäte Landschaft mit vielerlei Vögeln aus, in deren Mitte der heilige Apollinaris und zwölf Lämmer stehen, drei weitere finden sich etwas oberhalb. Im großen Bogen des Giebels erstrahlt ein Medaillon mit einem Bild Christi – segnend, aber mit strengem Blick. Durch den von roten und blauen Wolken durchzogenen Himmel schweben die Symbole der vier Evangelisten: der Adler (Symbol für Johannes), der geflügelte Mensch (Symbol für Matthäus), der Löwe (Symbol für Markus) und der Stier (Symbol für Lukas). Im unteren Bereich verlassen zwölf Lämmer die heiligen Städte Jerusalem und Bethlehem und steigen zu Christus empor.
All dies und zahlreiche andere Szenen an den Seitenwänden der Kirche sind umrankt von Bändern, Pflanzen und floralen Ornamenten, gebildet aus tausenden und abertausenden kleinen bunten Steinen, die allein nichts – zusammen aber eine ganze Welt erschaffen.
Wie lange ich so ganz für mich allein auf einer der schlichten Kirchenbänke saß und schaute, staunte und Form für Form zu erfassen versuchte, weiß ich nicht mehr. Irgendwann ging die dunkle große Eingangstür auf, ein älteres Paar kam herein, setzte sich in die erste Reihe und begann ebenfalls, die Fülle von Stein zu Steinchen zu erforschen. Sie sollten diesen wunderbaren Moment der Stille auch haben – ich ließ sie mit Apollinaris unterm Kreuz allein. Mich zog es ohnehin noch einmal zu meinem Himmel. Dass mir Galla Placidia mit ihrem Sternenkleid bereits an einer Baustellenabsperrung auf dem Fahrrad begegnete, löste Vorfreude aus. Hinter ihr fuhr Dante ein Buch spazieren, während an anderer Stelle Cäsar stoppte, der von Ravenna aus den Rubikon überquert und damit seine Macht manifestiert hatte. Das Mausoleum, in dem Galla Placidia übrigens nie bestattet wurde, da sie in Rom begraben liegt, war diesmal gut besucht. Als ich endlich wieder unter diesen für mich so besonderen Sternen stand, stürmte ein kleiner Junge heran, zog seine Mutter hinter sich her und rief: «Guarda, mammá: ecco il mio paradiso.» / «Hier, schau, Mama, da ist mein Paradies.» Nichts in mir widersprach ihm in diesem Moment.