Früher, als wir noch keine Kinder hatten, war unser Urlaub anders. Mein Mann und ich machten wilde VW-Bus-Touren quer durch Europa, selten waren wir länger als zwei Tage an einem Ort. Wir pilgerten auf Rockfestivals nach Südspanien oder liefen wie die Trolle durch die norwegischen Wälder – wochenlag, ohne einen Campingplatz auch nur zu betreten. Immer frei, genau das zu tun, wozu wir Lust hatten.
Letztes Jahr hatten wir unsere Campingpremiere als Ehepaar mit zwei Kindern. Weiter als nach Dänemark schafften wir es mit unserem behinderten Sohn und einer Tochter in der Trotzphase nicht. Weil die Kinder im Zelt kaum schliefen und wir Willi den ganzen Tag auf dem Campingplatz hinterherrennen mussten, waren wir schon am dritten Tag so müde, dass wir gut auch hätten nach Hause fahren können. Wir wussten beim besten Willen nicht, wie wir die nächsten zehn Tage noch herumbekommen sollten. Schon sechsmal waren wir am Strand und auf dem Spielplatz gewesen und sind schon sechsmal Bimmelbahn gefahren.
Und so ertappten wir uns dabei, dass wir sehnsüchtig auf die Abendveranstaltungen warteten, die der Campingplatz an den Wochenenden anbot. Ich hätte niemals gedacht, dass ich so schnell so tief sinken würde, aber ich freute mich wirklich darauf!
Es war eine Band namens Nalle and his crazy Iwans angekündigt, und der ganze Campingplatz schien vor Spannung zu vibrieren. In allen Waschräumen wurde geduscht und sogar geföhnt. Wir erwarteten, offen gestanden, Schreckliches. Trotzdem zählten wir, wie alle anderen, die Stunden, bis es endlich losging. Und dann war es so weit – und die Band überraschte uns mit Blues vom Allerfeinsten!
Ich hatte ein bisschen das Gefühl wie bei den Blues Brothers in der Szene, wo sie in einem Country Club vor dem falschen Publikum auftreten. Die Bühne, auf der die Musiker hier saßen, hatte zwar keinen Hühnerzaun (die Zuhörer warfen zum Glück auch keine Bierflaschen), sie war aber ebenfalls wie eine Art erhöhtes Schaufenster. Die gepflasterte Tanzfläche war leer. Dann kamen auf der Wiese noch ca. 10 Meter Sicherheitsabstand, und erst dahinter war es gerammelt voll mit Zuhörern. Ich denke, der gesamte Campingplatz war anwesend, alle saßen sie im schicksten Trainingsanzug auf Decken und Campingstühlen, trauten sich nicht zu tanzen und betranken sich.
Für Willi machte das keinen Sinn. Er hörte Gitarrenblues, also forderte er uns zu einem Tanz auf. Und Olivia wollte das, was Willi hatte, und ebenfalls auf unserem Arm «getanzt» werden. Also hüpften wir vier über die Tanzfläche – und immer, wenn Matthias und ich nicht mehr konnten oder auch ein Bier trinken wollten, rockte Willi allein die Hütte. Mit erhobenen Händchen wanderte er in seiner ganz eigenen Art hin und her über die Tanzfläche und machte nur Halt, um sich bei irgendjemandem ein paar Pommes zu holen. Ich glaube, an diesem Abend waren alle neidisch auf unseren Sohn. Diesmal war ausnahmsweise er es, der etwas konnte, was alle anderen nicht konnten: nämlich sich frei von Ängsten oder Scham zur Musik zu bewegen, egal wie viele Leute zuschauten. Ein toller Typ, unser Willi – und wir durften mit!
Nur einen Augenblick lang tat mir die Band leid, deren ernst zu nehmende Musiker hier auf einem Campingplatz vor einer Horde verklemmter Wohnwagenbesitzer aufspielen mussten, und die Einzigen, die tanzten, waren ein paar abspackende Pubertierende und ein geistig Behinderter mit seiner kleinen Schwester und seinen Eltern.
Die Dänen mussten noch bis um 23 Uhr saufen, bis sie sich endlich trauten, beim letzten Lied die Tanzfläche zu stürmen.
Matthias und ich waren an diesem Abend so glücklich und stolz wie noch nie mit unseren beiden Kindern. Danke, Willi!