Kinder mit Down-Syndrom sind für ihre liebevollen Begrüßungen ja geradezu berühmt! Wenn Willi allerdings vom Kindergarten kommt und ich ihn mit ausgebreiteten Armen empfange, läuft er meist freudig direkt an mir vorbei zu seinem CD-Spieler …
Ich finde es eine absolute Frechheit, dass mein Kind diese angebliche Kuschelbehinderung hat, aber nicht jederzeit mit mir kuscheln will! Aber wann immer Willi eine seiner Kuschelattacken auf mich loslässt, genieße ich es in vollen Zügen. Ich muss aber dabei schon aufpassen, dass er mir nicht den Nacken verrenkt, wenn er versucht, meinen Kopf in die beste Kuschelposition zu bringen. Willis kleine Schwester Olivia kommt bei uns zu Hause am häufigsten in den Genuss von Willis Liebe. Aber sie ist auch die, die es am wenigsten freut, wenn Willi sich auf sie wirft, denn sie fällt dann einfach um.
Bei vielen anderen Kindern mit Down-Syndrom trifft das Kuschel-Klischee voll und ganz zu. Und natürlich (wie könnte es anders sein) sind die Eltern damit auch nicht zufrieden. Es macht ihnen große Sorgen, wenn ihre Kinder fremden Menschen gegenüber zu distanzlos sind. Sie wollen einerseits ihre Kinder schützen, aber auch die Menschen respektieren, die keine Lust haben, von einem
wildfremden Behinderten abgeknutscht zu werden. Deswegen trainieren sie oft schon von klein an, dass man nicht jeden Unbekannten küssen und umarmen darf. Ich denke, unserer Gesellschaft geht da echt was verloren, wenn diese Eltern wider Erwarten bei ihrer Erziehung Erfolg haben sollten. Natürlich ist ihr Bemühen verständlich, besonders vor dem Hintergrund der erschreckend hohen Zahl von Missbrauchsfällen an behinderten Menschen.
Ich bin in einem Down-Syndrom-Netzwerk, wo wir uns als Eltern zusammentun, weil viele von uns dieselben Alltagsprobleme haben. Wir Eltern von Kindern mit Down-Syndrom sind eher nicht in «normalen» Elternnetzwerken unterwegs, weil wir die «Luxusprobleme» der Eltern dort nur schwer ertragen können. Und wir sind auch meist nicht in Netzwerken allgemein schwer behinderter Kinder, weil wir dort beschimpft werden, unsere Kinder hätten nur eine «Luxusbehinderung» ...
Mit Willi haben wir das Glück (oder wohl eher das Pech), durch gleich mehrere Syndrome auch gleich in mehreren Selbsthilfegruppen willkommen zu sein – aber mir reicht eine. Außerdem haben wir ja auch noch eine nicht behinderte Tochter. Ich könnte also auch in den normalen Elternforen surfen, aber bei Olivia hatte ich noch nie das Bedürfnis dazu (wenn mich auch die Luxusprobleme mit einer Dreijährigen, die jeden Tag UNBEDINGT eine Krone und dazu ein bodenlanges Kleid anziehen muss, ganz schön an die Grenzen meiner nervlicher Belastbarkeit bringen).
Der Hauptgrund, weshalb ich in der Down-Syndrom-Mailingliste mitlese (neben den unglaublich kompetenten medizinischen Tipps), sind die wunderbaren Geschichten, die die Eltern von ihren Kindern erzählen. Manchmal sind sie traurig, aber die meisten sind einfach schön und handeln eben auch immer wieder davon, dass die Kinder wildfremde, bekümmert wirkende Menschen an sich drücken oder völlig unbekannte, weinende Kinder auf der Straße trösten. Neulich las ich von einer Mutter, dass sie im Urlaub ihrem Sohn versuchte einzuhämmern, dass man fremde Menschen nicht zur Begrüßung abküsst, sondern ihnen einfach nur die Hand gibt. Solche Dinge muss man übrigens seinem Kind mit Down-Syndrom nicht etwa mehrmals sagen, nein: unendlich viele Male, wenn sie einen Effekt haben sollen. Und tatsächlich hatte diese Mutter Erfolg, allerdings mit der Konsequenz, dass ihr Sohn beim ersten Strandbesuch morgens erst mal zwei Stunden damit beschäftigt war, alle fremden Menschen schön in Ruhe und der Reihe nach mit Handschlag zu begrüßen … Übrigens war der Knabe überzeugt, am nächsten Tag schon wieder alle Leute knutschen zu dürfen: «Mama, die kennen wir doch von gestern!»