Ich habe neulich eine Studie gelesen, in der Menschen mit Down-Syndrom über ihr Selbstbild befragt wurden. Die überwältigende Mehrheit antwortete, sie führte ein «glückliches und erfülltes Leben». Ich fürchte, dass wir (die sogenannten «normalen Menschen») in Sachen Glücklichsein lange noch nicht so weit sind.
Dann hörte ich eine Unterhaltung in der U-Bahn: Eine Gruppe Anzugträger saß beieinander. Der eine äußerte, dass er es langsam satt habe, nur noch zu arbeiten. Die Antwort der anderen lautete in etwa: «Na, was sollen wir denn sagen …» – und alle übertrumpften sich damit, wer am meisten arbeitete. Der Mann muss das Gefühl bekommen haben, komplett zu versagen: Allen anderen geht es genauso (oder noch schlimmer!), da darf man sich nicht beschweren.
Meistens will man sich ja auch gar nicht beschweren, man erzählt einfach nur, was bei einem im Leben gerade so los ist. Natürlich passieren in meiner Familie mit einem behinderten Kind andere Dinge als in anderen Familien. Ich finde das ganz normal. Deswegen weiß ich auch nicht, warum auf meine Beschreibung unseres Alltags so oft die Antwort kommt: «Das hast du aber mit einem ‹normalen› Kind auch.» Macht das denn die Sache wirklich einfacher?
Auch die «normalen» Kinder haben ständig Rotznasen, pinkeln lieber nebens Klo als hinein, laufen immer genau in die Richtung, in die ihre Mutter gerade NICHT geht, ignorieren Anweisungen, als wären sie gehörlos, erzählen nichts aus dem Kindergarten (obwohl sie, anders als Willi, das wenigstens theoretisch könnten), hören Weihnachtslieder im Hochsommer bei 42 Grad, werfen ihre Schuhe im Zoo zu den Dachsen rein und die Handys ihrer Eltern in die Badewanne, kippen bei jeder Gelegenheit Apfelsaft in Handtaschen und hauen ihren kleinen Schwestern mit Holzhämmern auf dem Kopf herum … Aber das macht es doch nicht weniger anstrengend – für niemanden!
Ich habe in meinem neuen Bilderbuch Planet Willi den ganzen Wahnsinn unseres Alltags gesammelt, den jede andere Familie auch kennt und über den alle Eltern abwechselnd lachen oder weinen müssen. Willi spielt darin die Rolle eines kleinen Außerirdischen, der sich auf unserer Welt erst mal zurechtfinden muss. Aber wissen Sie, was ich nun zu hören bekomme? Es handele sich um ein RANDGRUPPENBUCH! Und das finde ich jetzt echt nicht fair: Wenn man jammern will, dann darf man nicht, weil es allen so geht, und wenn man ein Buch darüber macht, dann sind das plötzlich alles reine Behindertenprobleme? Ich versuche ja in Sachen vermeintlicher Diskriminierungen nicht so schnell beleidigt zu sein, aber dieses Mal muss ich doch etwas schmollen: Sind wir jetzt normal oder außerirdisch?
Apropos Diskriminierung: Neulich sprach mich im Supermarkt ein junger Mann mit den Worten an: «Ist der behindert?», und zeigte mit dem Finger auf Willi, der laut jauchzend im Einkaufswagen versuchte, mit den Zähnen eine Dose Würstchen zu öffnen. Der Typ kam mir aber selber nicht ganz koscher vor, also antwortete ich: «Ja. Und Sie?» Er schlug sich stolz auf die Brust und antwortete mit einem zackigen: «100 Prozent!» Ich hab so gelacht! Falls Willi mal sprechen lernt, dann wünsche ich mir, dass er genauso offen mit seiner Behinderung umgehen kann wie dieser junge Mann. Auf jeden Fall denke ich nicht, dass er später in der Wohngruppe zwischen seinen Freunden sitzt und sagt: «Mensch, ich hab’s langsam satt, so behindert zu sein» und alle andern reden dann auf ihn ein: «Was sollen wir da erst sagen, wir sind mindestens genau so behindert …»