Mein Sohn wird niemals studieren, er wird kein Komponist werden, kein Arzt, Anwalt oder sonst etwas Tolles. Und wissen Sie was? Das macht mir gar nichts aus. Wenn ich sehe, wie Eltern ihren Neugeborenen T-Shirts mit der Aufschrift «Abi 2025» anziehen, dann tun sie (und ihre Kinder) mir irgendwie leid.
Mit was für einem Leistungsdruck starten diese Babys ins Leben! Wie viele Erwartungen können da enttäuscht werden! Vielleicht soll der Spruch aber auch ein Scherz sein!?
Ich gehe davon aus, dass ich (und mein behindertes Kind) solchen Eltern auch leid tun. Ein behindertes Kind ist ja praktisch die personifizierte enttäuschte Erwartung. Ich hätte Lust, Willi ein T-Shirt anzuziehen auf dem steht «Förderschule 2025». Das soll dann auch irgendwie ein Scherz sein, und den finde ich persönlich lustiger als den Abi-Witz.
Mich schmerzt es gar nicht, dass mein Sohn kein Abitur machen wird. (Und jetzt bitte keine Leserbriefe mit dem Hinweis auf den einen Mann mit Down-Syndrom, der in Spanien sogar einen Hochschulabschluss gemacht hat und zusätzlich ein begabter Schauspieler ist. An so einer herausragende Einzelleistung will ich mein Kind nicht messen. Im Gegenteil: Willi lehrt uns Leistungsdruck zu überwinden!) Außerdem hat Willi ja noch weitere Behinderungen und ist deswegen mit einem «Durchschnittsmenschen mit Down-Syndrom» (wenn es so etwas überhaupt geben sollte) nicht vergleichbar. Jede Kleinigkeit, die er dazulernt, ist für uns ein Geschenk! Was mich aber wirklich in tiefstem Herzen schmerzt, ist die Tatsache, dass Willi nicht sprechen kann. Wie überproportional wichtig und dominant Sprache in unserer Gesellschaft ist, war mir früher nicht klar.
Willi leidet massiv darunter, nicht sprechen zu können! Lautes Schreien ist seine einzige Möglichkeit, akustisch auf sich aufmerksam zu machen. Lautes Schreien wird aber von anderen Menschen selten als Kommunikatiosversuch gewertet und kann eine Mama in den Wahnsinn treiben. Die Gebärdensprache, die wir mit Willi üben, wird aber nur von einer Handvoll Menschen mühsam verstanden. Mit am besten versteht ihn seine kleine Schwester Olivia. Sie fungiert oft als Übersetzerin. Allerdings fallen ihre Übersetzungen manchmal nicht ganz uneigennützig aus – und ziemlich oft behauptet sie bei Oma und Opa Dinge in der Art wie «Willi hat gesagt, er möchte ein Eis».
Seit Neustem hat Willi einen Sprachcomputer, einen sogenannten «Talker». Darauf kann er Tasten mit Symbolen drücken, die dann vom Gerät gesprochen werden. Natürlich kann Willi mit dem Talker nicht plötzlich abstrakte Unterhaltungen führen, aber er hat überraschend schnell verstanden, dass sich die Wahrscheinlichkeit, eine Brezel zu bekommen, extrem erhöht, wenn er «Ich möchte Brezel» drückt. Und auf jeden Fall bekommt er nun eine passende Antwort!
Durch den Talker erfahre ich viel über meinem Sohn – und nicht nur, dass er sehr gerne Brezel mag! Ich durfte erfahren, dass Willi ein kleiner Witzbold ist! Als wir den Sprachcomputer erst ein paar Tage hatten, fragte ich Willi bei Tisch (wie üblich keine Antwort erwartend): «Na, Willi, ist das Brot lecker?» – und plötzlich drückte Willi das Wort «eklig» und grinste mich an. Ich sagte «nein, das Brot ist lecker» und drückte «lecker», worauf Willi erneut «eklig» drückte und mir begeistert ins Gesicht lachte! Dann erst begriff ich: Er hatte einen Witz gemacht!!! Den Witz hat er seitdem gefühlte 100.000 Mal gemacht und es amüsiert ihn immer noch köstlich. Ich finde das auch absolut angemessen, wenn man bedenkt, dass Willi die sechs Jahre gar keinen Quatsch reden konnte! Und ich muss jedes Mal mitlachen, so schön ist es, plötzlich einen kleinen Scherzkeks am Tisch zu haben. Willis Witz ist außerdem lustiger als «Sonderschule 2025» ...