Was kann einer Schriftstellerin besseres passieren, als eingeschneit zu sein, einen gut gefüllten Kühlschrank zu haben und den Kopf voll mit Ideen, dazu ein Stipendium, das einem eine gnadenvoll, vierwöchige Schreibfreiheit garantiert!? Ich spreche jeden Morgen ein Dankesgebet. Papier ist genügend da, der PC und der Drucker sind arbeitswillig, der Bollerofen glüht, draußen rieselt der Schnee, und die Schlei hüllt sich in ein zartes, weißes Gewand.
Und ich? Ich schreibe unaufhörlich. Keine Störung. Kein Geräusch. Ab und zu das Knacken der Holzscheite, das Rascheln des Papiers, das Rauschen der Gedanken in meinem Kopf. Mein Jonas-Opa Leo-Buch wächst, meine Helden sitzen mit mir am Küchentisch und wir reden, wir beraten, wir verwerfen. Opa Leo will durchaus nicht so sterben, wie ich es mir für ihn erdacht habe, er hat seinen eigenen Kopf, aber das Sterben findet er okay. Der Enkel Jonas will sich erst nicht verlieben, dann doch. Wo kommen plötzlich Elvis, Bismarck und die kleine Dame Frau Krümel und all die anderen Heimbewohner her? Keine Ahnung, sie sind da. Ich rede mit ihnen, ich träume von ihnen, ich wache mit ihnen auf und schlafe mit ihnen ein. Ich rieche die Küchengerüche dieses Altenheims, ich bin erstaunt über den Zivi, der dort hilft und nicht geplant war, ich schreibe und schreibe, der Ofen glüht, mein Kopf glüht, der Stift glüht. Die Heimbewohner wollen ein Fest. Das ist okay. Das sollen sie haben. Ich höre plötzlich Zarah Leander, Elvis, den skurrilen Heimbewohner mit seiner E-Gitarre, ich höre plötzlich Brahms. Der fünfte ungarische Tanz tobt in meinem Kopf, Elvis und Opa Leo nicken sich zu, umarmen sich und beginnen zu tanzen. Ich liebe diese Musik, ich habe sie früher oft gehört, die Schallplatte ist längst verkratzt und zu Hause im Ruhrpott. Ich beschließe, mir eine CD mit den ungarischen Tänzen zu besorgen. Irgendwann in einer Welt ohne Schnee. Jetzt, nach dieser Überraschung mit dem Fest, brauche ich erst mal eine Pause. Ich mache mir ein paar Brote und will für einen Moment aussteigen aus meiner Schreibfamilie, ich will reale Stimmen hören, ich schalte den Fernseher an. Ich stehe wartend mit meinem Teller in der Hand vor dem Apparat, das Bild ist schlecht, der Schnee stört den Empfang, es brizzelt und knackst, dann wird das Bild scharf, ein schwarz gekleideter Mann mit wilder Mähne schaut mich eindringlich an, ich starre gebannt zurück, er sieht teuflisch gut aus, aber er dreht sich um. Er hebt einen Stock, und – ich bin so verdattert, dass die Brote vom Teller rutschen. Ich sehe ein ganzes Orchester, das mich und diesen schwarzen, wilden Kerl anblickt. Und loslegt. Der fünfte ungarische Tanz erklingt, und ich stehe vor diesem winzigen Fernseher, vergesse die Brote, vergesse, mich hinzusetzen, vergesse zu denken. Ich höre. Ich sehe Opa Leo und Elvis zu dieser wunderbaren Musik tanzen, ich spüre ihre Lebensfreude, ihre Begeisterung. Und als es zu Ende ist, greift meine Hand mechanisch zur Fernbedienung und schaltet den Fernseher aus. Mehr will ich nicht haben. Mehr wäre zu viel. Meine Schreibfamilie kichert. Opa Leo und Elvis verbeugen sich. Bismarck klatscht und Jonas ist vor Verwunderung ganz stumm. Die kleine Dame Frau Krümel schaut verliebt an Elvis hoch und errötet.
Da grinst Opa Leo sein berühmtes Opa-Leo-Lächeln, das von einem Ohr zum anderen reicht, und seine verschmitzten Augen funkeln. Tja, sagt er. Tja, der Zufall! Er macht, was er will. Und manchmal fällt er einfach ins Haus. Und ich bekomme gerade so eine Ahnung von kosmischen Zusammenhängen, von den Syncronizitäten, die C.G. Jung uns erklärt hat, die uns begleiten, die wir aber meistens nicht mitkriegen.
Und als ich ein paar Tage später das Auto frei bekomme, auf die Landstraße ins Dorf zum Kaufmann biege, tucker ich hinter einem Laster her, der trägt in Riesenlettern die Aufschrift: LEO. Und bekomme große Augen und beschließe, es sofort, wenn ich zurück bin, meiner Romanfamilie zu erzählen. Aber die weiß das schon.