Brigitte Werner

Schlüsselerlebnis

Nr 171 | März 2014

Ich liebe Kinder. Ja, das tue ich. Aber nicht immer. Wenn ich von einer anstrengenden Kindertheatervorstellung nach Hause komme, will ich keins mehr sehen. Hören auch nicht. Ich will in meine ausgebuffte Gammelhose schlüpfen und eine DVD mit Ally McBeal sehen. Vielleicht noch ein wenig über die köstlichen Momente nachdenken, als die Kinder an den richtigen Stellen gelacht haben oder betroffen waren. Ich bin kurz glücklich, mache eine Notiz, wenn etwas misslang, und tauche in den Feierabend.
Ja, jetzt muss ich das Gelingen feiern, zwei Stunden Anfahrt, eineinhalb Stunden Bühnenaufbau, eine Stunde mutig gespielt mit mutigen Kindern, mit denen ich die Geschichte improvisiere, die mich nicht kennen und die ich nicht kenne. Und das geteilte Stolz­sein, wenn es gelingt. Eigentlich immer. Ich belohne mich mit Lachs-Häppchen, ich fülle mein Weinglas und steuere das Sofa an.
Da klingelt es. Kein Mensch kommt um diese Uhrzeit unange­meldet zu mir in den vierten Stock. Ich habe keine Lust auf Besuch. Aber ich öffne. Ich höre die Haustür ins Schloss fallen. Dann höre ich NICHTS. Irgendjemand, ein unsichtbarer Der-Die-Das schleicht über die Stufen. Ich beuge mich weit übers Treppenge­länder. RUMMS!!!! Hinter mir fällt die Tür zu. Ich erblasse. Aus-die-Maus. Da steh ich nun vor meiner Wohnung, bereits im Schlafanzug (!), der Wein wartet, die Häppchen warten und die wunderbar verkorkste Ally. Shitshitshit!
Ich sehe das Kind von nebenan um die Ecke biegen. Es wohnt erst seit einem Monat hier. Es ist ein bleiches, stummes Mädchen. Das keine Augen hat. Die blicken nämlich immerzu nach unten und zerstarren den Boden. Ich warte.
Das Mädchen sieht mich an. Es hat Augen. Du liebes bisschen, ganze Wagenladungen voll Kummer sind darin. Ich erschrecke. Das Mädchen kann sprechen. «Kann nicht rein», flüstert es, blickt wieder konzentriert auf den Boden und setzt sich auf die Treppe, die zum Dachboden führt. «Ich kann auch nicht rein», sage ich, zeige auf meine Tür, auf meinen Schlafanzug und seufze: «Zuge­fallen!» Die Augen des Kindes schauen angestrengt auf den falschen Marmorboden, dann blickt es auf und flüstert: «Blöd!»
«Sollen wir zusammen warten?», frage ich. «Zusammen warten ist nicht ganz so schlimm», sage ich noch und setze mich neben sie.
Sie rückt etwas weg. Kurz denke ich, sie braucht ungefähr eintausend liebe Arme, die sie halten. Ich traue mich nicht und werde ganz stumm. Wir schweigen in den trüben Hausflur. Aber dann halte ich das nicht mehr aus und erzähle. Ich rede drauflos, ich berichte von meinem Theaterspiel, ich erzähle die tollkühnen Ein­fälle der Kinder, ich komme in Fahrt. Ich liebe dieses Stück: Dornröschen küsst den lieben Wolf! Ich bin Koch, Zwerg, Fee, Königin und Prinz. Da merke ich, wie sie plötzlich dicht neben mir sitzt, sie schaut nicht auf, aber sie hört konzentriert zu. Ich mache den treudoofen lieben Wolf nach, der immerzu bettelt: «Schmust du mich?» – und ihre Hand schleicht sich in meine. Sie ist kalt und sehr klein. Ich werde jetzt so stumm wie der frühe Vogel, der an blöde Sprichwörter glaubt. Ich drücke die kalte Hand zaghaft. Sie drückt zurück. Wir schweigen.
«Darf ich mal Zwerg sein?», flüstert sie. «Klar», nicke ich. «Nächstes Mal, wenn ich in der Nähe spiele, nehme ich dich mit und du bist der Zwerg.» – «Welcher?», fragt sie. «Welcher?», frage ich zurück.
In dieser Geschichte gibt es nur den einen. Ich schlage vor, dass die anderen gerade alle bei Schneewittchen die Wäsche aufhängen. Sie nickt ernst. Unten geht die Haustür, ihre bleiche, dünne Mutter kommt und zieht sie in die Wohnung, sagt höflich «Danke».
Das Mädchen schaut nicht zurück, aber eine Hand winkt kurz.
Später sitzt sie immer mal wieder blass und stumm auf der Treppe. Dann setze ich mich dazu. Sie heißt Lea. Und sie wollte dann doch kein Zwerg sein. Lieber die gute Fee.