Meine Stimme hätte ganze Regale mit Glas zerspringen lassen können. Sie war hoch, sie war tief, sie kochte und brodelte, sie schrillte so laut, dass sie sich nach diesem Anfall für eine Zeit verabschiedete. Mein Zorn war so gewaltig, dass ich begann, mich davor selber zu fürchten. Ich schrie, ich tobte, ich rammte immer wieder eine Faust auf mein Lenkrad, und mein kleines Auto füllte sich mit den unflätigsten Wörtern, die ich je gehört, gelesen, gesagt habe und jetzt zu erfinden begann …
Das Verrückte ist, dass ich heute nicht einmal mehr weiß, was der Auslöser war. Ich vermute, dass es eine tiefe Kränkung gewesen ist, die mich zum ersten Mal mit dieser Wucht meiner stets unter Kontrolle gehaltenen Zorn-Agressions-Schmerz-Attacke konfrontierte. Wut war in meiner Familie nur meiner Mutter erlaubt.
Ich war ein kleines, ängstliches Kind gewesen, das man mit einer lauten Stimme auf der Stelle zusammenfalten konnte auf die Größe eines Reiskorns. Man erzählte sich bei Familientreffen, dass dieses kleine, artige, bezopfte Mädchen tatsächlich mal in die Küchentischkante gebissen habe. Die Zahnabdrücke in dem Linoleumbelag wurden als Beweis gezeigt, und ich musste in die Ecke und mich schämen. Was ich gründlich und heftig tat. Aber ich bin heute ganz sicher, dass ich damals schon eine tiefe Wut ausdrücken wollte, die anders kein Ventil gefunden hatte. Auch hier habe ich keine Ahnung mehr, was der Anlass gewesen war.
Später, so mit zehn, schrie ich im dunklen, unheimlichen Keller zaghaft alle Wörter, die ich niemals (NIE!) benutzen durfte. Und so schlich ich angepasst und wutlos durchs Leben. Immer freundlich, immer zu feige, auszudrücken, was die schnaubenden Ungeheuer in mir zum Wüten brachte. Natürlich habe ich während meines Pädagogikstudiums viel über Aggressionen, unterdrückte Gefühle und ihre fatalen Auswirkungen auf unser Leben gelernt. Theoretisch war ich gut, praktisch eine unschlagbare Niete.
Die ersten gewagten kleinen «Ausrutscher» kamen aber irgendwann vor, meine Wut reckte ihre Nase aus tiefstem Schnee wie die ersten vorsichtigen Schneeglöckchentriebe. Das war immer dann, wenn man meine Arbeit angriff. Wenn man sie nicht wertschätzte. Meine Arbeit war eigentlich die einzige Wertschätzung, die ich mir selbst entgegenbrachte. Meine Arbeit war mir immer heilig. Sie war ein Kraftquell, mein Reichtum.
Der Wutanfall im Auto war befreiend, er war der erste Schritt für meine Heilung. Er hatte etwas elementar Wahrhaftiges, meine Ungeheuer wollten angeschaut und gestreichelt werden, ich hatte ganze Rudel davon. Ich begann zögernd zu lernen, mich auch mit diesen Wutattacken zu mögen, auch wenn ich sie zuerst nur mit mir selbst ausmachte. Das mit einem Gegenüber auszutragen war immer noch so eine Art «Vorhölle». Denn Geschrei, ein genervtes, zorniges Gesicht, schlimme Beschuldigungen und Wörter taten mir immer noch quälend weh, dann schrumpfte ich auf Ameisengröße.
Damals im Auto hatte ich das Radio auf volle Lautstärke gestellt, der Krach tobte wunderbar synchron mit meiner Wut. Ab und zu brauchte ich eine Atempause. Ein Song hämmerte sich da gerade in mich rein, und irgendwann nahm ich wahr, wie der Sänger stakkatohaft wiederholte: Thank you – for let me be myself. Die Wut schlug um in Begeisterung. Ich schrie mit mindestens 100 Dezibel den Refrain mit. Er wurde meine Hymne. Ist er immer noch.
Thank you, sage ich hin und wieder zu mir selber, wenn ich es schaffe, zu meiner Wut zu stehen.
Ein paar Tage später im Bus sagte ein kleines fünfjähriges Mädchen, blass und dünn wie ich damals, zu einer oberfreundlichen Oma, als diese fragte: «Na, Kleine, was willst du denn mal werden, wenn du groß bist?» – «Dann werde ich Zwerg!» Und es schaute trotzig in das Gesicht der alten Dame.
Be yourself, dachte ich.
Und: Gratulation.