An einem 9. März ist meine Mutter mit 49 Jahren gestorben. Das ist schon sehr lange her.* Doch jedes Jahr aufs Neue holt mich dieser Tag ein. Aber an einem besonderen 9. März mischte sich in die Trauer eine diffuse Angst, würde doch auch ich nun 49 Jahre alt werden. Die Beziehung zu meiner Mutter war immer sehr schwierig gewesen, bis ich, kurz vor ihrem Tod, meinen Frieden mit ihr machen konnte. Ich weiß nicht mehr, was geschehen war, dass sich meine Angst vor ihr in dem Erkennen ihres unglücklichen Lebens auflöste und ich alle ihre «Fehler» plötzlich verstehen und verzeihen konnte. Noch heute begreife ich dieses Geschehnis als Befreiung, als einen großer Segen, für den ich dankbar bin.
An dem 9. März in jenem Jahr, in dem sich nun mein 49. Geburtstag näherte, kam ich von einer ausgesprochen anstrengenden Kindertheatervorstellung aus dem tiefsten Sauerland zurück, man hatte doppelt so viele Kinder wie abgesprochen in den tristen Saal des Gemeindehauses gequetscht – und wir hatten kämpfen müssen. Nun, es war zu einem Sieg geworden. Ein Sieg, dem große Erschöpfung folgte.
Später saß ich, immer noch angespannt, in meinem Ungetüm von Sessel, die Dämmerung wuchs bereits ums Haus, und die Schatten der Bäume tanzten im Abendlicht über die Wände. Ich zündete eine Kerze an und legte die Kassette in den Recorder, die mir mein Theaterkumpel beim Abschied gegeben hatte. «Wird dir gefallen …», hatte er gemurmelt. Er war gerade auf dem «Esotrip», liebte Tarotkarten, befragte die Sterne, hörte New-Age-Musik und trieb immer die seltsamsten Sachen auf. Er hatte es mühelos geschafft, mich damit anzustecken. Für solche Dinge hatte ich schon immer einen starken Hang. Ich war gespannt. Mein Kater Oskar sprang auf meinen Schoß und rollte sich dort zusammen. Sein Schnurren und die Sanftheit des Kerzenlichts halfen mir, mich in die Erinnerungen an meine Mutter sinken zu lassen, als die ersten Töne mein Herz zerschnitten. Oskar schrak auf, legte seine Ohren weit zurück und lauschte genauso aufgewühlt und irritiert wie ich. Mächtige Gewässer stürzten hinter meine Augen und wälzten sich in jede Zelle. Tränen strömten über mein Gesicht, und ein tiefer Schmerz füllte meinen Körper, der sich krümmte. Ich glitt mit einem seltsamen Vertrauen in diesen Schmerz, war er doch ein alter Bekannter aus alten Zeiten.
Oskar entspannte sich, aber seine Ohren blieben konzentriert. Bilder platzten in meinem Kopf, ich trieb in wilden Meeren über Untiefen und seltsam schaukelnden Gewächsen. Die Töne wuchsen in mich hinein, sie kommunizierten miteinander, sie sprachen mit dem Wasser, mit mir, mit meiner Unruhe, mit meiner Angst und meiner Nichtangst. Ich sah mich selbst als Embryo, ich fühlte die unsägliche Sorge meiner Mutter um mich, das zweite Kind. Das erste hatte sie direkt nach der Geburt verloren. Ich weinte alle Tränen des Verlustes – um meine Mutter, um meinen toten Bruder, um mich, um allen Kummer der Welt. Ich weinte ohne Ende. Diese eindringlichen Töne zerrissen mich fast, aber sie trieben mich auch immer wieder in einen geschützten Raum, um den ich mit großer Gewissheit wusste. Ich war in meiner Mutter, meine Mutter war vollkommen um mich herum, ich spürte ihre Nöte, ihre Verzweiflung. Und ihre Liebe. Die Töne drückten mich tief in meine Erinnerungen, ich wurde mein kleines, wissendes Selbst, unversehrt und vollkommen geborgen.
Als mich das Ende der Kassette mit einem lauten KLACK zurückholte, die Tränen flossen immer noch, begriff ich, dass nur eine Zeitstunde vergangen war, ich aber in einem unendlichen Augenblick der Ewigkeit verweilt hatte. – Die Walgesänge hatten mich in das Urgewässer der Schöpfung mitgenommen. Und ein tiefer Schmerz hatte Heilung erfahren.
* Meine Mutter ist am 9. März 1969 gestorben, ich war 20 Jahre alt.