Manchmal wäre ich gerne eine Amerikanerin. Die kann nämlich vielfach täglich auf die Frage «How are you?» einfach lächelnd mit «thanks, fine» antworten – selbst wenn sie zu Hause ein geistig schwer behindertes Kind hat, das sich mit sieben Jahren noch nicht halbwegs selber anziehen kann, und dazu noch eine kleine diktatorische Tochter, die sich dafür gerne täglich bis zu zehnmal neu verkleidet. Egal, was für ein nervliches Wrack eine Amerikanerin ist, sie sagt «fine» und packt weiter Einkäufe in den Wagen oder bestellt einen Kaffee.
Aber ich bin eine Deutsche. Ich stelle mir jedes Mal WIRKLICH die Frage, wie es mir geht. Und irgendwie kommt mir das Leben immer zu komplex vor, um einfach sagen zu können «alles super, danke». Ich will es meinem Gegenüber nicht so einfach machen – und es wäre ja auch eine Lüge. Andererseits kann (und will) ich auch nicht ständig erklären, was bei uns zu Hause so abläuft! Und selbst wenn mal alles ganz gut läuft, muss man nur einmal in der Woche Tagesschau gucken, um sich für die nächsten sieben Tage wieder vollkommen zu deprimieren.
Doch wenn ich ehrlich bin, beziehe ich mein «aber» nach «eigentlich ganz gut» (was anscheinend mein maximaler Wohlfühlgrad ist) nicht auf die Nachrichten über Flüchtlinge aus Syrien. Ich habe ja meinen eigenen kleinen Flüchtling zu Hause, der sich – wenn ich vielleicht doch mal ganz kurz auf die Toilette gegangen sein sollte, ohne vorher das Haus zu verrammeln, umgehend auf einen kleinen Spaziergang begibt. Zum Glück ist meine Tochter Olivia mittlerweile so groß, dass ich ihr kurz zurufen kann, dass ich nur eben Willi einfangen gehe. Ich muss sie nicht mehr bei der Verfolgungsjagd auf dem Arm mitschleppen. Und auch Willi ist nun so weit, dass er meist nach einem kleinen gemeinsamen Spaziergang auf Socken durch die Siedlung, mit kurzem Zwischenstopp an der Korbschaukel, wieder mit mir zurück nach Hause kommt.
In dem einen Jahr, in dem ich hier nicht aus «Willis Welt» berichtet habe, ist bei uns wirklich vieles einfacher geworden – aber meine Ansprüche wachsen wohl parallel mit.
Zu sagen, dass es mir nicht gut geht, wäre aber auch vollkommener Quatsch. Einige Menschen denken ja anscheinend, dass es einem mit einem behinderten Kind die ganze Zeit schlecht geht. Als wir letzen Sommer auf Kur waren, gab es da einen kleinen Jungen, der mich durchgehend mit Fragen zu Willi bombardierte: «Warum macht er so komische Geräusche?» – «Warum sitzt er unterm Tisch?» – «Warum zieht er immer die Schuhe aus?» … Allesamt sehr berechtigte Fragen, auf die ich auch ganz gerne Antworten hätte. Seine Mutter versuchte, ihn sofort wegzuzerren, und sagte in allen erdenklichen Varianten sinngemäß: «Die Frau hat doch schon genug zu leiden.» Komisch, ich kam mir eigentlich gerade ganz glücklich vor, ich hätte auf der Kur sogar glatt auf die Wie-geht’s-Frage mit «gut» antworten können, wenn ich nicht schon wieder so kompliziert gedacht hätte, dass es doch irgendwie traurig ist, wenn man überhaupt eine Kur nötig hat.
Na ja, ich habe hoffentlich noch ein paar Jahre Zeit, von Meister Willi zu lernen, nicht immer um die Ecke zu denken. Und bis dahin antworte ich mit etwas, was nach einer Floskel klingt, aber in dem ganz viel Wahrheit steckt, nämlich mit: es muss ja. Und wenn ich doch nach Syrien schaue und daran denke, dass dort auch Familien sind, die sich um ihre behinderten oder kranken Angehörigen kümmern müssen, in all dem Leid des Krieges, dann weiß ich: Mir geht es doch gut, sehr gut sogar!