Birte Müller

Weltentschleunigung

Nr 188 | August 2015

Ich denke es ist ein Gerücht, dass sich unsere Welt durch die exzessive Nutzung von Mobiltelefonen verschnellert hat. Ich erlebe sogar das genaue Gegenteil: Um bei einer Verabredung auf keinen Fall irgendwo zehn Minuten ineffektiv herumzuwarten, telefoniert man miteinander, um zu verabreden, dass man telefoniert, wenn einer am Treffpunkt angekommen ist. Leider verbringe ich meine Anfahrt in der U-Bahn dann hocheffizient mit einem Telefonat, was dazu führt, dass ich aus Versehen in die falsche Bahn umsteige und in einem Funkloch lande. Endlich angekommen und am Ende meines Gesprächs sehe ich, dass ich mehrere Anrufe auf der Mail­box habe, die ich nun wiederum erstmal abhören muss, wobei ich feststelle, dass der andere schon da war, mich aber nicht erreicht hat und deswegen kurz zum Mediamarkt reingegangen ist – ich soll anrufen, wenn ich dort bin. Jetzt muss ich aber erst mal googeln, in welche Richtung ich zum Mediamarkt am Hauptbahnhof rausmuss, und mich vom Handy navigieren lassen. Weil auch die Leute um mich herum alle auf ihre Telefone starren, werde ich ständig ange­rempelt. Und als ich endlich weiß, wo ich langmuss, kann ich mich nicht beeilen, denn alle Leute um mich herum gehen ganz, ganz langsam, denn sie sind entweder alt oder schauen auf ihr Smart­phone! Ich bin also zum Schluss gekommen, dass Handys die Welt eindeutig verlangsamen.
Auch mein Sohn entschleunigt die Welt, aber auf eine schönere Weise – finde ich wenigstens. Augenkontakt ist etwas extrem Wichtiges für Willi; ohne einen echten Blick in die Augen ist es schwierig, mit ihm zu kommunizieren. Und ein Blick in Willis Augen lohnt sich immer, denn sie strahlen so schön!
Durch Willi und den Umgang mit anderen behinderten Menschen habe ich gelernt, offener auf Menschen zuzugehen, klarer zu kommunizieren und mich achtsamer zu verhalten. Wenn ich ein Training mit Managern machen müsste, würde ich sie für ein Wochen­ende in eine Wohn­gruppe mit geistig behinderten Menschen einquartieren. Komisch, dass so viel in die Abschaffung behinderter Menschen investiert wird, wenn wir doch so viel von ihnen lernen könnten. Haben Sie mal einen Menschen mit Down-Syndrom im Service erlebt? Da könnte sich so manche Kellnerin eine große Scheibe Liebenswürdigkeit und Humor abschneiden! Und ich wage sogar die Behauptung, dass man seinen Kaffee in kürzerer Zeit in den Händen hält, als es dauert, bei gewissen Ketten die Tafeln mit den Produkten, Größen und dem Monats-special-extra-Espresso-Shot zu durchschauen.
Leider finden trotzdem viele behinderte Menschen keine Aus­bildungs- oder Arbeitsplätze am normalen Markt, dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Manchmal frage ich mich, was die ganze schulische Inklusion soll, wenn am Ende doch alle in derselben Werkstatt hocken. Für Willi muss aber der Job am ersten Arbeitsmarkt erst noch erfunden werden. Er könnte auf jeden Fall ein guter Lach­yogatherapeut werden – allerdings nur an den guten Tagen. An den schlechten Tagen müsste es eine Schrei­therapie sein. Er könnte aber auch eineTop-Testperson sein für hirnlose Pop- oder Volksmusik: Was Willi auf Anhieb mag, wird auch Millionen anderen gefallen (außer es sind Blechbläser dabei, dann gefällt es oft nur ihm). Ansonsten frage ich mal bei einem Möbelladen an, ob Willi nicht eine Tätigkeit übernehmen könnte, die sonst von einer Maschine ausgeführt wird: nämlich durch ständiges Aufreißen und Schließen der Schubladen deren Langlebigkeit zu testen. Dafür ist Willi auf jeden Fall qualifiziert. Überhaupt könnte Willi als Produkttester gute Dienste leisten, ich stelle mir da ein ganz eigenes Qualitäts­siegel vor:
«100 % Williproof – von der Stiftung Willitest»!
Oder er könnte eben einfach als Welt-Entschleuniger dienen. Ich kann ihn nur empfehlen – mehr als ein Smartphone.