«Genieß die Zeit, es geht so schnell vorbei!» Diesen mahnenden Satz habe ich oft gehört, seit mein erstes Kind Willi vor acht Jahren geboren wurde. Ich habe mich damals nicht getraut, laut zu sagen, dass es mein größter Wunsch war, die Zeit möge bitte möglichst schnell vorbeigehen. Ich hatte das Gefühl, dass mit mir als Mutter etwas nicht stimme. Aber welches der vielen Probleme mit meinem schwer behinderten Baby sollte ich denn ganz besonders genießen? Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch die Säuglingszeit mit meinem zweiten (ganz normalen) Kind nicht besonders genossen. Ich war einfach zu erschöpft.
Deswegen kann ich auch dem Satz «Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen» bis jetzt überhaupt nicht zustimmen. Bei uns wird Jahr für Jahr alles etwas einfacher, und ich kann das Muttersein heute viel mehr genießen als in der Baby- oder Kleinkinderzeit. Olivia ist nun ein Schulkind und wird selbstständig – ich finde das großartig. Sie geht jetzt manchmal einkaufen (mit selbst geschriebenem Einkaufszettel), und sie kann allein zur Schule gehen. Alles Dinge, die ihr großer Bruder wohl niemals können wird. Aber auch Willi scheint sich immer besser auf unserem Planten zurechtzufinden. Er kann sich mehr mitteilen, ab und zu Regeln einhalten und hat seine ewige Rastlosigkeit verloren. Er sitzt mit mir am Tisch, und wir puzzeln zusammen 69 Teile – ich genieße das. Hätte mir jemand vor drei Jahren – als ich hier die erste Kolumne schrieb – gesagt, mein Sohn würde sich eines Tages für Puzzles interessieren, ich hätte ihn für mindestens so verrückt gehalten wie Willi selbst.
Ich bin sehr froh, dass die Zeiten, in denen ich buchstäblich die Minuten gezählt habe, bis meine Kinder schlafen, vorbei sind. Dafür rast die Zeit jeden Morgen unendlich schnell, in der meine Tochter sich nur eben mal schnell anziehen und ein Brot essen müsste. Genießen kann ich das nicht, da ich mir vorkomme wie eine «Sisyphos-Sklaventreiberin», während Olivia vor sich hin träumt und an ALLEM herumfummelt, was ihr irgendwie ins Sichtfeld kommt. Auch hier freue ich mich auf den nächsten Entwicklungsschritt. Die meisten Kinder ziehen sich ja wohl irgendwann einfach selbstständig an, oder? Vielleicht liegt es daran, dass ich durch Willi keine Angst haben muss, dass meine Kinder bald vollkommen unabhängig sind, vielmehr freue ich mich über jede Selbstständigkeit. Für mich darf die Entwicklung gerne fix vorangehen. Auch wenn man so etwas nicht zugeben darf, aber ich mag sogar den Gedanken, dass meine Kinder irgendwann ausziehen werden. Mal abwarten, wie’s dann wirklich ist.
Mit Willi war ich vor Kurzem wegen seiner massiven «Verhaltensunangepasstheit» drei Wochen lang in einer Sozialpädiatrischen Klinik. Dort wurde diagnostiziert, dass mein Sohn lediglich entwicklungstechnisch die Trotzphase erreicht habe, sein Verhalten sei also normal. Mir ist zwar nicht klar, wie lange eine Phase andauern darf, bis man es Zustand nennen muss, aber wir müssen da jetzt einfach durch, wie alle Eltern – aber genießen kann das wohl
keiner. Mir bleibt nur zu hoffen, dass die Trotzphase vorbei ist, wenn die Pubertät beginnt, sonst muss ich leider durchdrehen.
Ich habe einmal einen Bericht gesehen, in dem eine Mutter über das Leben mit ihrem Sohn mit Down-Syndrom befragt wurde. Sie zuckte die Schultern und sagte: «Es war immer alles ganz normal eigentlich.» Nebenan hörte man jemanden auf ein Schlagzeug dreschen. Sie sprang auf und brüllte in das Zimmer ihres Sohnes, dass er doch jetzt BITTE etwas leiser sein sollte. Dann ließ sie sich müde zurück aufs Sofa fallen und seufzte: «Nur jetzt mit der Pubertät, da ist es wirklich schlimm» – in meinem Kopf ergänzte ich: Also alles ganz normal eigentlich ...