Öfter werde ich gefragt, ob ich mir schon Gedanken darüber mache, was aus Willi einmal beruflich werden soll – oder ob er wohl irgendwann mal ausziehen wird. Ehrlich gesagt mache ich mir darüber noch nicht allzu viele Gedanken. Nur eines ist klar: Für immer bei uns wohnen soll Willi nicht! Aber ob er nun mit 18 in eine Wohngruppe zieht oder wir ihn erst mit 25 «rauswerfen», das weiß ich doch heute noch nicht – Willi ist ja erst acht Jahre alt! Bei seiner kleinen Schwester ohne Behinderung kann ich ja jetzt auch noch nichts darüber sagen, wann oder wohin sie mal ziehen wird und was wohl ein guter Beruf für sie sein könnte. Wie lange Willi bei uns lebt, wird sicher auch davon abhängen, wie lange wir durchhalten – manchmal hätte ich gerne so eine Art Kalender, an dem ich jeden Abend ein Blatt abreißen kann nach dem Motto: Wieder einen Tag geschafft! Aber wenn dann noch 3.650 Blätter dahinterkleben, ist das auch nicht sehr motivierend.
Vielleicht aber bin ich ja auch in zehn Jahren eine echte Glucke geworden und will gar nicht mehr, dass meine Kinder ausziehen. Das kann ich mir momentan allerdings nicht vorstellen. Mehr als an die Auszieh-Zukunft meiner Kinder denke ich darüber nach, was ich alles machen werde, wenn sie aus dem Haus sind. Da ich in den letzen Jahren eine Menge neuer Fähigkeiten durchs Muttersein dazugewonnen habe, könnten mir beruflich ganz neue Wege offenstehen.
Ich muss zur Zeit neben meiner eigenen Berufstätigkeit so viele Dinge des Familienalltags gleichzeitig im Kopf haben, die sich ständig kompliziert gegenseitig bedingen und die sich durch die unberechenbaren und irrwitzigen Arbeitszeiten meines Mannes, das unkontrollierbare Verhalten meiner Kinder und andere höhere Gewalten ständig im Fluss befinden. Und all das, während in der Regel zwei Kinder gleichzeitig an mir zerren, wovon die eine pausenlos auf mich einredet, während der andere laut schreit und Blödsinn anstellt und ich am Telefon in der Warteschlange der Krankenkasse hänge und nebenbei koche. Ich bin ganz sicher fit für einen hohen Managerposten bei VW oder beim Bau des Berliner Flughafens! Ein größeres Irrenhaus als das unsere kann das auch nicht sein – und
möglicherweise hätte ich dort auch nachts keine sieben Tage Rufbereitschaft. Und die Vorstellung, dafür dann auch noch voll- kommen unangemessen hoch bezahlt zu werden, finde ich sehr reizvoll.
Ich habe mich oft gefragt, warum nicht die hardcore organisationserprobten Multitasking-Mamas in der Wirtschaft alle Spitzenposten besetzen. Aber eigentlich ist es ja klar, warum das nicht so ist: Sie werden zu Hause dringender gebraucht, und wenn die Kinder irgendwann ausgezogen sind, haben sie keinen Bock mehr darauf.
Jetzt, wo mein Mann und ich so hochqualifizierte Behinderteneltern sind, könnten wir natürlich auch Therapeuten oder Betreuer werden oder so, aber dazu hat sicher auch keiner von uns dann mehr Lust. Letztendlich sehe ich unsere besten beruflichen Chancen im Personenschutz. Wir sind ein perfekt eingespieltes Team – mit einem Blick und ein paar Gebärden können wir uns aus weiter Entfernung ohne Funkverbindung selbst in größeren Menschenmengen über sich nähernde Gefahren austauschen (z.B. Hund von links! Willi wird ihm gleich die Wurst des Mannes rechts zuwerfen), ohne dabei unsere Zielperson aus den Augen zu lassen. – In Wirklichkeit werde ich aber einfach erst mal ein Jahr lang nur schlafen, wenn meine Kinder ausgezogen sind, oder auch zwei Jahre – mal schauen.