In meinem Umfeld beobachte ich die Tendenz, dass Freunde, statt sich mal ordentlich aufzuregen, behaupten, an jeder noch so ätzenden Situation innerlich zu reifen. Also, wenn mein Partner mich zwei Jahre lang betrogen hätte, dann würde ich daran vielleicht auch in ein paar Jahren charakterlich gewachsen sein, aber erst mal würde ich es ausgiebig Scheiße finden!
Mit Krankheiten ist es dasselbe: Sie müssen uns weiterbringen und für etwas «gut» sein. Obwohl es eine wesentliche Erfahrung für mich gewesen ist, an Depressionen zu erkranken, hätte ich trotzdem ganz prima darauf verzichten können. Doch dann würde ich vielleicht niemals nachvollziehen können, wie es sein kann, dass man seine gesamten Kräfte aufbringen muss, bloß um einmal den Kopf zu heben. Es ist furchtbar! Was Menschen leisten, die dauerhaft mit Depressionen leben, ist unglaublich – sie sind unvorstellbar stark!
Ich habe meine erste Depression nach Willis Geburt bekommen. Zum Glück wurde ich im selben Krankenhaus wie Willi gleich mitbehandelt – wer weiß, was sonst passiert wäre. Ich dachte, es sei eine Überlastungsdepression gewesen, aber weil ich nach der Geburt unserer Tochter erneut in ein schwarzes Loch fiel, denke ich, dass es wohl in beiden Fällen Wochenbettdepressionen gewesen sind. Ich selbst war übrigens nicht in der Lage, meinen Zustand zu erkennen. Es brauchte meine Mutter, eine gute Freundin und den Mut meines Mannes, dass ich mich in eine psychiatrische Klinik einweisen ließ. Sechs Wochen verbrachte ich mit unserem Baby dort stationär. Es war der richtige Schritt. Neben der schnellen Einstellung auf ein Medikament – was mir wie ein wahres Wunder erschien – und der Befreiung von allen Alltagsverantwortungen war das Beste dort die Ergotherapie. Es gab verschiedene Werkstätten, und ich durfte nach Belieben basteln. Wie lange hatte ich das nicht getan? Einfach so vor mich hinwerkeln, ohne Zweck und ohne Ziel.
Außerdem gab es dort noch Tanztherapie und natürlich viele Gespräche. Das war unbeschreiblich anstrengend, weil ich mein «Ich-Gefühl» ganz verloren hatte, vor mir aber jemand saß, der mich und meine übertriebenen Ansprüche komplett entlarvte und sie mir um die Ohren haute: Selbst in der Therapie wollte ich noch alles besonders gut und richtig machen! Der Therapeut gab mir das Vertrauen, dass bestimmte Dinge, für die wir ständig ein schlechtes Gewissen haben, oft eine wichtige und heilende Funktion haben. Wir müssen uns dafür nicht hassen – im Gegenteil: Wenn ich heute, statt die Hausarbeit zu erledigen, drei Stunden auf dem Sofa gesessen und für Olivia ein Kaninchen gehäkelt habe, dann brauchte ich das als Ergotherapie! Und selbst das ständige Funktionieren hat eine Funktion für mich, die ich mir nicht ständig übelnehmen sollte. Sogar dem Feierabendbier meines Mannes gegenüber habe ich durch diese These deutlich mehr Verständnis entwickelt: Ist eben die Männer-Therapie! Mit dem Wein nach dem Weizenbier halte ich ihn dann aber schon für übertherapiert ...
Mir gefällt der Gedanke, dass durch Willi schon seine eigene und unsere Therapien mitgeliefert wurden: Wir singen und tanzen durch unseren Alltag, müssen ständig lachen – sogar in krassen Situation –, und in meiner Arbeitszeit mache ich Schreib-und Maltherapie und werde sogar noch dafür bezahlt!
Und wenn unsere Lieblingsband irgendwie in unserer Reichweite spielt (oder auch außerhalb davon), dann werden gnadenlos die Kinder outgesourct und mein Mann und ich setzen ALLES in Bewegung, um uns zwei Abende die Seele aus dem Leib zu rocken: Das ist dann unsere Paartherapie – und sie tut uns SO gut! An allem anderen brauche ich nicht unbedingt zu wachsen, sondern jammere lieber etwas herum.