Neulich gab es in Olivias Schule eine Musical-Aufführung. Ich finde es grandios, wenn Schulen eine Theater-AG haben – und natürlich wollte ich mit Olivia hingehen. Ich stehe dann immer vor der schwierigen Frage: Nehme ich Willi mit oder nicht? Wenn es sich um reines Sprechtheater handelt, hat Willi keine Freude daran (und auch alle anderen bei der Aufführung dann nicht). Wenn es sich um Kinderkonzerte handelt, hat er zwar Freude, aber so manche ehrgeizige Mutter echauffiert sich dann über Willi – und dieser wiederum lauthals über schiefe Geigeneinlagen. So eine Situation möchte ich Olivia in ihrer Schule ersparen.
Willi mit ins Musical zu nehmen, habe ich gewagt, und es hat zum Glück recht gut geklappt. Das Problem war nur, dass er sehr gerne mitgetanzt hätte. Prinzipiell wäre dagegen sicher auch nichts einzuwenden, wenn unten vor der Bühne ein begeistertes Kind mittanzt, aber faktisch gesehen stiehlt Willi damit jeder Schülervorführung die Show. Kinder, die ihn nicht kennen, sind in der Regel höchst beeindruckt von seiner bloßen Präsenz, aber wenn er auch noch einen seiner sehr körperbetonten Hüpftänze hinlegt, schaut niemand mehr auf das Stück. Das wäre nicht ganz fair.
Das ist der Grund, warum Willi bei Vorführungen von Olivia manchmal gar nicht mit dabei ist. Ich möchte mich dann voll auf Olivia konzentrieren und nicht darauf, Willi von der Bühne zu hieven. Oder wir machen es oft so, dass ich eine zusätzliche Betreuungsperson dabeihabe, die mit ihm rausgeht, wenn er zu sehr stört.
Willi liebt klassische Musik – und er ist ein extrem aufmerksamer Zuhörer. Während der Stücke macht er kaum einen Mucks, nur ab und zu reißt es ihn bei Wagner kurz für eine kleine Tanzeinlage vom Stuhl, die einer Übersprungshandlung gleicht. Leider schreit er aber zwischen den Stücken sehr laut. Das ist eine Mischung aus Begeisterung und Angst, das Konzert könnte vorbei sein. Die sehr leisen Passagen sind ein Problem, denn Willi fordert, man möge bitte lauter spielen. Als das NDR Sinfonieorchester am Tag der offenen Tür die Morgenstimmung aus Peer Gynt von Edvard Grieg gespielt hat, ist mir der Schweiß in Strömen gelaufen – aus Angst, Willi würde seine Gebärde für das Wort «laut» auch noch durch dementsprechende Ausrufe unterstreichen.
Natürlich gehen wir nicht in «normale Konzerte», denn ich kann von den anderen Zuhörern, die viel Geld bezahlt haben, nicht erwarten, dass sie all diese Unruhe von Willi einfach so tolerieren.
Kirchenbesucher fordere ich in musikalischen Gottesdiensten da schon etwas mehr heraus. Trotz der vorne gepredigten Nächstenliebe finden manche es nicht so lustig, wenn Willi parallel zur Predigt etwas in seiner eigenen Sprache erzählt. Die Pastoren verstehen in der Regel mehr Spaß und müssen oft schmunzeln, wenn Willi ihre Aussprüche vehement mit «ja!» und «so!» untermalt. Von den Chor- und Orchestermitgliedern unserer Kirche bekomme ich oft aufmunternde Kommentare, dass sie es toll finden, dass ich mit Willi komme. Ich denke, ich würde mich als Musikerin auch freuen, wenn ich einen anderen Menschen zu einem kurzen Ausdruckstanz im Kirchgang mitreißen könnte. Der Orchesterleiter hat allerdings Angst vor Willi, denn dieser packt ihn immer am Arm, blickt ihm tief in die Augen und fordert von ihm: BITTE das Weihnachtsoratorium zu spielen. Der arme Mann versteht natürlich nicht, was Willi meint, wenn dieser zehn Zentimeter vor seinem Gesicht eindringlich «BAM» sagt (was die Paukenschläge meint, mit dem der erste Teil beginnt). Und Willi versteht nicht, warum sie so ein schönes Stück immer nur so selten spielen!