Zeitenfluss sei für einen Moment zurückgestellt – ins vorige Jahrtausend – in die 1950er Jahre. Meine ersten Kinder-jahre – und da war Zeit kein Thema. Kind sein bedeutete: einfach da sein, neugierig sein, spielen. Gespielt wurde im Wesentlichen draußen. Sommers wie winters. Und immer waren da Spielkameraden und unbewachte Zeit. Kein Erwachsener verfolgte genau, wo wir waren und was genau wir machten.
Keine Eltern weit und breit, als wir im Schnee mindestens zwanzig Trödelminuten von zu Hause zum Schlittenberg zogen, wo es nur so wimmelte von Kindern. Mit den Schlitten rauf und runter, Schneebälle werfen, Schneeklümpchen vom nassen Wollhandschuh essen, Schanzen bauen. Manche waren so hoch, dass der Schlitten ordentlich durch die Luft flog, wenn es laut rufend abwärts ging: «Aus der Bahn Zitronenschmarrn.»
«Und ihr wart wirklich auch alleine im Wald?» – «Ja! Oft.» Verstecken, klettern, bauen, Maikäfer sammeln, die es damals noch zuhauf gab. Im Sommer Walderdbeeren suchen: mit zerkratzten Beinen durchs Unterholz, jeder mit einem kleinen leeren Marmeladenglas in der Hand nach guten Stellen Ausschau haltend. Und dann Beere für Beere ins Glas. «Schau, wie hoch es bei mir schon ist!» Das spornte an, denn mindestens fingerhoch sollte das Glas schon gefüllt sein, bevor es wieder heimwärts ging. Unterwegs zurück vorsichtig den Deckel gelüpft: «Hmh, riech mal!» – «Himmlisch!» Niemals wieder haben Erdbeeren – selbst nicht die schönsten gekauften und auch nicht Bio-Erdbeeren – so gut geduftet und geschmeckt. Unvergleichlich, weil selbst erobert.
Selbst erobern, das beflügelte uns auch einmal an einem Ostermontag, als wir Geschwister felsenfest überzeugt waren: Beim gestrigen Osterspaziergang mit den Eltern haben wir bestimmt noch versteckte Eier übersehen. Also haben wir den ganzen Nachmittag vertrödelt und noch mal alles abgegrast.
Trödeln, das gehörte zum Heimweg von der Schule. Auch morgens war Hetze unbekannt. Wer zuerst an der verabredeten Ecke war, wartete auf die anderen, dann ging’s im Pulk weiter. Hüpfen, springen, kurz verweilen – denn ein paar Frühlingsblumen für die Lehrerin waren auch noch drin. Kein Kind hatte eine Uhr – und trotzdem kam niemand zu spät. Beim Läuten der Schulglocke waren alle pünktlich; das waren wir auch abends, zu Hause zum Abendessen. Gewisse Ordnungen galten einfach und wurden eingehalten. Ebenso wie verschiedene Pflichten, die wir Kinder hatten und denen wir auch nachkamen. Ein nachhaltiges und bis heute erinnertes Kinderglück war es, sich allein draußen in eine kleine Bucht zwischen Büschen und Bäumen zu verkrümeln, die niemand kannte, wo einen keiner entdecken konnte, wo zeitvergessenes Spielen mit allerlei Fantasiegestalten ungehindert blühen konnte.
Alles «heile Welt»? Weit gefehlt, denn Ärger und Streit gab es natürlich – und auch Tränen. Deutlich ist noch so ein Gefühl wie Weltuntergang, wenn Spielkameraden sagten: «Du darfst nicht mehr mitspielen.» Dann galt es, selbst damit klarzukommen, sich selbst wieder aufzumuntern. Genauso war es auch mit der Langeweile, die unversehens auftauchen konnte mit ihrem «Ganz-auf-sich-gestellt-Sein», bis einem dann doch etwas einfiel.
Natürlich ist es heute undenkbar, Kinder so frei herumlaufen zu lassen. Unser Leben ist dichter besiedelt, schutzbedürftiger, voller Unwägbarkeiten, nervöser. Doch auch heutige Kinder haben ein tiefes Bedürfnis nach Kindsein, nach Neugierigsein. Sie wollen spielen, trödeln, experimentieren – wie eh und je. Und es ist wichtig, dass sie dies auch behaupten können, denn «Kinder sind wie Uhren; man muss sie nicht nur aufziehen, sondern auch laufen lassen», wie es Jean Paul so trefflich schrieb.
Wie aber soll das gehen, dieses «Laufenlassen»? Wo doch heute die Zeit eh schon so knapp ist?
Näher besehen fällt auf, dass oft eine Menge Zeit vertan wird für Gewohnheiten, die echte Zeiträuber sind. Zu den größten Zeiträubern gehört, neben dem Medienkonsum, die verbreitete Gewohnheit, Kinder wie Erwachsene anzusprechen. Ständig wird gefragt, diskutiert, lamentiert: «Willst du dies, willst du jenes?» – meist gefolgt von schlechter Laune. «Stimmt», bestätigt eine Mutter, «bei uns ist jeden Morgen Zoff. Oft dauert es eine halbe Stunde, bis unsere Tochter sich entschieden hat, welches T-Shirt sie anziehen will, und meistens reicht dann die Zeit nicht mehr zum Frühstück.» Und so geht es weiter durch den Tag: «Welche Nudeln, welchen Joghurt, welche Geschichte am Abend?»
Solche Zeiträuber lassen sich einschränken, sobald Rollenklarheit waltet und Eltern ihre Vorbildrolle ergreifen und die Kinder anleiten und «gewisse Ordnungen und feste Zeiten» einführen – die auch gelten! Die ganze Stimmung verbessert sich und eine enorme Zeitersparnis tritt ein. Wo nicht dauernd alles ausgehandelt werden muss, bleibt Kindern Zeit zum Kindsein, zum Neugierigsein, zum Experimentieren. Dass dies keine «hohlen Worte» sind, sondern tatsächlich funktioniert, sehe ich bestätigt in meiner Arbeit als Elterncoach, Trainerin und Autorin, die vom Anliegen getragen ist, das Aufbauende im Zusammenleben mit den Kindern zu stärken.
Dies gilt für so viele Bereiche im Leben mit Kindern – und im Leben überhaupt: Einem Kind etwas zuzutrauen, statt immer gleich zu Hilfe zu eilen, wenn es gerade etwas probiert: Heute erobert es vielleicht erst mal nur zwei Stufen auf der Leiter zur Rutsche. Und irgendwann schafft es alle. Und daran freut es sich dann auch. Eigenständiges Experimentieren zulassen, auch wenn ein Kind etwas nicht so zusammenbaut, wie es auf der Gebrauchsanweisung steht, sondern etwas Eigenes erfindet. Oder wenn es einfach im Sand sitzt und nur den Sand durch seine Finger rieseln lässt. Beim Spielen geht es nicht darum, dass etwas «Vernünftiges» rauskommt, sondern – und das ist das Wertvolle – ums Anwesendsein. Im Hier und Jetzt. Bei sich selbst. Beseelte Momente, die sich im Spiel finden lassen oder in der Kunst und die kostbar sind und stärken, wie der Künstler Karl Valentin es einmal so trefflich sagte: «Heut’ mach ich mir eine Freude und besuche mich selbst …»!