Von 1968 bis in die 80er Jahre hinein soll ein links-antiautoritärer Zeitgeist geherrscht haben, das gilt heute als ausgemachte Sache. Nun sympathisierten aber damals höchstens 20 Prozent der (west-)deutschen Bevölkerung mit diesen Ideen. Demnach hätte eine (wenn auch beachtliche) Minderheit den Zeitgeist repräsentiert. Aber wer entscheidet so etwas und nach welchen Kriterien?
In den 80ern wurde Neokonservativismus chic. Angeblich forderte der Zeitgeist, von sozialromantischen Träumereien Abschied zu nehmen. Aber auch die ökologische Aufbruchsbewegung reklamierte ihn für sich. Zugleich boomten sogenannte Zeitgeist-Magazine. Sie gaben sich poppig, ironisch, modebewusst, sexy, tolerant, wollten weder spießig noch «politisch korrekt» erscheinen. Der Anglizismus Lifestyle – nahezu sinnidentisch mit Zeitgeist – kam auf. Die Kritik an der kapitalistischen Kulturindustrie war Schnee von gestern. Das große Mantram lautete: Man muss mit der Zeit gehen. Warum denn, fragte ich manchmal? Um nicht abgehängt zu werden, lautete die Antwort. Von wem? Na, von der Zeit. Aha!?
Als das staatskommunistische Fiasko zu Ende ging, begleitet von Hymnen auf das «alternativlose» westliche Lebensmodell, geriet Weltverbesserungsidealismus unter Generalverdacht. Der an sozialethischen Leitbildern orientierte «Geist der Utopie», wie Ernst Bloch es nannte, wurde verantwortlich gemacht für den an ihm verübten Verrat. Die «Historisierung» des 68er-Impulses nahm Züge einer dämonisierenden Abrechnung an. Wer mit dem Zeitgeist konform sein wollte, huldigte einem auf technologische Superlative und Wirtschaftswachstum reduzierten Fortschrittsbegriff und sang das Lied der Globalisierung.
Inzwischen fragen sich immer mehr Menschen, ob Globalisierung überhaupt wünschenswert ist, und wenn ja, welche? Die des Kamikaze-Kapitalismus? Soll das tatsächlich der Zeitgeist sein? Dann wäre es Bürgerpflicht, gegen ihn zu arbeiten. Aber es gibt ja noch andere Denkansätze. Stichworte: «Globalisierung im Geist der Solidarität». «Globalisierung sozialer Rechte». «Freiheit für Bildung und Wissenschaft als globales Projekt». Man hört jetzt häufiger, der Zeitgeist drehe sich.
Müssen wir uns mit dem mörderischen Ökonomismus abfinden? Oder hat die Stunde der Occupy-Bewegung und verwandter Strömungen geschlagen? Ein Occupy-Vordenker plant, «die unersättliche Geldmaschine, bevor sie auch noch die letzten Reste von Gemeingut und sozialer Gerechtigkeit abschafft», durch eine «Revolution der Liebe» zu entmachten.* Wunderbar! Ich bin dabei! Andererseits sind Liebes-Revolutions-Ankündigungen nichts Neues. Make love, not war? Vom Winde verweht. Make love, not money? Man wird sehen.
Neuerdings flirtet das «spirituell-kulturkreative» Spektrum heftig mit dem Zeitgeist. Evolutionärer Wandel durch einen Paradigmenwechsel vom mental-rationalen zum integralen Bewusstsein etc. Die Szene hat ihre Magazine und Verlage und bleibt doch ein Nischenphänomen. Große Kämpfer für soziale Gerechtigkeit findet man hier selten. Mancher New-Age-Apostel findet, das sei nicht mehr zeitgemäß.
Siegfried Woitinas, Gründer des Stuttgarter Jugend- und Kulturzentrums Forum 3, blickt, wie er in seiner Autobiographie erklärt, auf «ein wunderbares Leben im Einklang mit der Zeit» zurück. Nun war aber das, was mich an diesem Mann immer faszinierte, gerade seine Unbeirrbarkeit, Anthroposophie und (teils radikale) Zeitkritik zu verbinden. So gesehen, erlebte ich ihn oft in Dissonanz mit der Zeit. Heißt aber «in Dissonanz mit der Zeit» notgedrungen «in Dissonanz mit dem Zeitgeist»? Woitinas lehnt – genau wie ich – das im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb vorherrschende, einseitig genetisch-neurobiologische Menschenbild ab. Entspricht dieses dem Zeitgeist? Oder gerade nicht?
Ich schlage vor, zwei Ebenen des «Zeitgeistigen» zu unterscheiden, eine «untere» und eine «obere»:
Auf der «unteren» werden Kämpfe um Macht und Einfluss ausgetragen, mit mehr oder weniger fairen Mitteln. Es ist die Ebene des Wettbewerbs der Ideologien, Religionen, Diskursmoden, politischen Programme, kulturellen Trends, Kunstströmungen, Lebensstile, Zukunftskonzepte etc. Hier zanken sich alle um den Zeitgeist. Jeder fühlt sich im Einklang mit ihm. Auf der «oberen» Ebene waltet – als wahrer Hüter des Zeitenschicksals – ein weit über das ganze Gezänk hinausragendes Geistwesen. Halten wir uns an Rudolf Steiner und nennen es Michael. Das ist ein der christlichen Mythologie entlehnter Name eines Erzengels. Sicher gäbe es auch andere Möglichkeiten, diese nur imaginativ erfassbare Gestalt (oder Wirksamkeit) zu umschreiben.
Was tut Michael? Zunächst gar nichts. Er wartet. Sein Wesen ist Erwartung, Empfangsbereitschaft. Was sich auf der unteren Ebene abspielt, kann und will er nicht eigenmächtig beeinflussen. Michael wartet, dass Menschen ihre Blicke zu ihm erheben mögen. Niemals würde er unsere Freiheit antasten. Wer sich ihm aber zuwendet mit Fragen im Herzen, die aus allgemeiner Menschenliebe geboren sind, wird Inspiration und Ermutigung erfahren. Solange es mir nur um mein eigenes Wohlsein oder Fortkommen geht, bin ich für seine Botschaften taub. Michael antwortet auf Regungen selbstloser Sorge um Andere. Letztlich um das soziale Ganze.
Steiner gab Anregungen, wie man sich bewusst mit Michael in Verbindung setzen kann. Ich will nur wenige Grundgesten nennen: Entscheidend sei es, sich «in jedem Augenblick seines Lebens» zu vergegenwärtigen: «Die wirklichen Menschen … sind unsichtbar.» Das der äußeren Wahrnehmung sich darbietende «Konglomerat von mineralischen Partikelchen» dürfe niemals verwechselt werden mit dem Menschen selbst. Dies stets zu beachten, so Steiner, «heißt michaelisch denken». Ist es mir selbstverständlich geworden, den unsichtbaren Menschen im Anderen realer zu nehmen als seine physisch-leibliche Erscheinung, kann ein «Bewusstsein der Präexistenz des Seelischen» aufdämmern. Ich beginne nun zu erfassen, was Empfängnis bedeutet: Ein geistiges Wesen offenbart sich im Seinsmodus der Leibhaftigkeit. Michaelisch denken, heißt, «die Ungeborenheit denken».
Übungen in Richtung des Angedeuteten lassen mich erst in voller Tragweite erfassen, was Menschenwürde bedeutet. Daraus erwächst soziale Verantwortung. Man beginnt zu verstehen, was Emmanuel Lévinas gemeint haben könnte, als er notierte: «Das existenzielle Abenteuer des Nächsten ist dem Ich wichtiger als sein eigenes.» Diese Zusammenhänge zu begreifen, heißt, michaelisch denken. Und aus solchem Denken heraus etwas zu unternehmen in der Welt, das schließlich heißt, michaelisch handeln.