Simone Lambert hat am Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität Frankfurt Germanistik studiert und ist u.a. als Rezensentin von Kinder- und Jugendliteratur für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften tätig. Nach dem Erscheinen des letzten Bandes der Science-Fiction-Reihe «The Bad Tuesdays» des englischen Autors Benjamin J. Myers, der nach dem Philosophie-, Psychologie- und Juarstudium als Strafverteidiger schwerkrimineller Jugendliche arbeitet, befragt sie die Zukunftsromane nach ihrem Bezug zu unserer Zeit – zu unserem Leben. (mak)
Inquisitoren stehen an der Spitze der Verbogenen Symmetrie, einer rassistisch-faschistoiden, mafiösen Organisation. Sie sind Herren über eine hochentwickelte Wissenschaft und eine gigantische Armee. Ihr Gegenspieler ist das Komitee, dessen Schlagkraft sich weit bescheidener ausnimmt. Angeführt von Ethel, einer schmuddeligen alten Dame, hinter deren unscheinbarem Äußeren sich ein mächtiges, ein gutes Wesen verbirgt, streitet hier eine kleine Truppe für den freien Willen des Einzelnen, wo die Symmetrie nur eines zulässt: den ewigen Stillstand, auch ewiger Frieden genannt. Eine Zeitenwende steht bevor und ein Kind soll die Spirale der Zeit anhalten – oder sie in eine neue Richtung drehen: Chess, die jüngste der drei Bad Tuesdays-Geschwister, ist von den Universen auserwählt. Ausgerechnet ein Straßenkind soll die Welt retten – oder vernichten? Während die Geschehnisse Chess von ihren Brüdern Splinter und Box trennen, bis sie im apokalyptischen Finale wieder zusammenfinden, wehrt sich das Mädchen zunehmend gegen die Determinierung, in einem ewigen Zyklus die Rolle des Vernichters oder des Erlösers einnehmen zu müssen.
Das Ende der Zeit. Wie plausibel ist diese Idee eigentlich? Wenn das Universum sich ausdehnt – und nehmen wir mal an, dass es sich spiralförmig ausdehnt – kann Zeit nicht an das Ende in der Mitte der Spirale gelangen. Gäbe es aber eine spiralige Anordnung der Geschichte, der Historie, wäre dieser Moment denkbar. Gegen Ende der sich zielgerichtet eindrehenden Spirale müssten sich die Ereignisse und Entwicklungen überschlagen,
wie hier …
«Dystopien» sind eine typische Ausdrucksform in Filmen, Comics oder Büchern der Science Fiction oder des Cyberpunks. Drei Phänomene verdeutlichen Benjamin Myers dystopische Zukunftsfantasien besonders stark: Da sind die ausdauernden Beschreibungen von Hässlichkeit und Schmutz, dann eine fehlende Öffentlichkeit in dieser unbenannten Gesellschaft, und zuletzt fragen wir, warum es die Kinder ohne Kindheit sind, von denen die Zukunft der Welt abhängt.
Dreck, Nässe, Kälte, Fäulnis, Dunkelheit, Körpersekrete, Lumpen – selbst lesend ist die Umgebung der Bad Tuesdays kaum zu ertragen. Was im Leser Schauder und Ekel hervorruft, ist den Geschwistern vertraut: sie sind «Kanalratten», obdachlose Jugendliche ohne Geschichte, ohne Bildung, ohne Schutz. Sie stehlen sich, was sie brauchen und entwickeln Schnelligkeit, Instinkt und Schläue. Daraus beziehen sie ihr Selbstbewusstsein; ihre abstoßende Umgebung nehmen sie stoisch oder mit der coolen Haltung des Punks hin. Sie ist der Stempel der Armut, aber auch der Abhärtung. Diese modrige Welt ist die Rückseite der glanzvollen Erscheinung der Verbogenen Symmetrie, ihr wahres Antlitz, nur sichtbar für jene, die genau hinschauen. Der Schauder wird zum Kennzeichen einer morbiden Antiästhetik.
Die Geschichte spielt in einer unbekannten Stadt in einer unbenannten Zeit. Eine hochentwickelte Technologie verortet die Erzählung in der Zukunft. Raumschiffflotten kontrollieren Universen, Roboter werden biologisch entwickelt und Zeit, Raum und Materie können durch Gedankenkraft gesteuert und überwunden werden. Doch der kriegerische Konflikt, der sich über lange Strecken vor den Augen der Menschen verbirgt, findet auf archaische Weise in Schlachten von Mann zu Mann statt – keine Wunderwaffe verhindert den Körperkontakt der Krieger.
Diese undefinierte Gesellschaft hat keine Öffentlichkeit ausgebildet; es gibt weder eine Regierung noch einen Verwaltungsapparat, sieht man von der marginalen Rolle der Polizei ab. Weder Bürgerrechte noch eine soziale Absicherung schützen die Menschen. Zugleich verhindern Saturiertheit und Privatheit in dieser Klassengesellschaft die Wahrnehmung größerer Zusammenhänge und die Bildung einer öffentlichen Sphäre. So kann die Symmetrie ungehindert Kinder verfolgen und – Myers deutet nur an – quälen. In industrialisiertem Ausmaß extrahieren die Inquisitoren aus Schmerz, Leid und Angst von Kindern Energie.
Unschwer lassen sich diese Dystopien als ahistorische Fortschreibungen dessen verstehen, was der Autor in seiner Situation wahrnimmt und erlebt. Mir scheint, dass man die Symmetrie in ihrer Gier als ein Bild der Verunsicherung und Unreife einer infantilisierten Gesellschaft begreifen muss, wie sie uns etwa in den Großstadtsingles von heute immer wieder begegnet. Auch Missbrauch von Kindern beruht auf einer Infantilisierung des Missbrauchenden, der sich klein macht, um sich den Zugriff auf Kinder zu sichern. Lemuel Sprazkin, als Oberster Warp ein hochintelligenter, gefährlicher Homunkulus, reibt mit seinem albernen Gekicher die Nerven aller auf. Und als die Inquisitoren Mevrad in ihrer Erscheinung als königliche Amazone begegnen, sind sie voller Angst vor ihrer echten Autorität. Sie reagieren kindlich, während die Kinder die Verantwortung übernehmen und handeln.
Entsprechend werden die Angelegenheiten mit den altklugen Maßstäben der Kinder bewertet: streng und asketisch. Behaglichkeit und Schönheit erscheinen als Ausdruck von Verweichlichung und Langeweile. Es ist ausgerechnet eine «Schlipsträgerin», die diese Irrtümer ansatzweise entwirrt.
Anna Ledward, die Freundin von Chess, schön, kultiviert und modern, ist das Glanzlicht der Ausnahme in diesem Umfeld der Antiästhetik. Die sechzehnjährige Schwertkämpferin ist eine Dame; mit Schlagfertigkeit, Eleganz und Selbstbewusstsein weiß sie sich zu wehren und Galanterien zu beantworten. Annas ironische Paraden zeugen von Humor, ihre Handlungen von menschlicher Wärme. Etwas wie Würde und Geselligkeit zieht durch sie in die Geschichte ein.
Dennoch wird sich keine wirklich reife, erwachsene Gesellschaft konstituieren. Chess wird nie heiraten oder eine Familie gründen. Zwar wird der Kampf gegen das Böse Aufgabe jedes Einzelnen sein, statt ein Erlöserkind mit dieser Mission zu überfordern. Aber die Vorstellung vom Ende der Zeit ist die Angst vor dem Erwachsensein, und die überlebt den Zeitenwechsel.
Erwachsensein ist experimentell. Als Erwachsene leben wir mit dem Geschenk des Lebens und dazu gehört beides, Gut und Böse, Verunsicherung und Entschiedenheit, Stärke und Schwäche. Erwachsenes Leben ist nicht zu haben ohne Fehler und Verlust, ohne Komplikationen und Mehrdeutigkeiten. Ein klarer Weg wird erst in Gemeinschaft daraus.
Benjamin J. Myers Werk ist großartig in seiner Fantastik, spannend in seinen Wechseln von Abenteuerhandlung und vertiefenden Dialogen und grandios in seinen Charakterschilderungen. Mit ihren Dystopien sind die Bad Tuesdays ein Werk unserer Zeit. – Und die sollten wir kennen.